Museum-Hours-©-2012-Stadtkino-Filmverleih

Museum Hours

9
Drama

Wien, Wien, nur du allein. Sollst stets die Stadt meiner Träume sein… Doch wer zu lange in einer Stadt lebt, vergisst auf das Träumen und verlernt das Sehen. Vielleicht bedarf es gerade deshalb der unverbrauchten Augen eines Fremden, um uns den abhanden gekommenen neugierigen Blick auf die  allzu gewohnte Stadt wieder finden zu lassen… 

Der New Yorker Dokumentar- und Experimental-Filmemacher Jem Cohen ist eine der spannendsten Figuren des unabhängigen amerikanischen Kinos. Als er während eines Wien-Aufenthalts gemeinsam mit der Musikerin Patti Smith das Kunsthistorische Museum besuchte, sah er auf einem Bruegel-Gemälde im Szenenhintergrund einen kleinen Soldatenjungen, der eine viel zu große Rüstung trug und dem der Helm bis über die Augen gerutscht war – das heimliche Herzstück des Bildes, das seinen Blick fesselte und nicht mehr losließ. „Einen Film über Wien müsse er drehen“, soll Jem in diesem Moment der Erleuchtung gesagt haben, verrät uns Patti nach dem diesjährigen Viennale-Screening im Gartenbaukino.

Ausgangspunkt für Cohens ganz persönliches Wien-Porträt bleiben die Räumlichkeiten der historischen Kunst, die andachtsvolle Stille des Museums, diese sonderbar anmutende Parallelwelt, in der uns die Geister vergangener Zeiten aus den Gemälden heraus so imposant, so fremdartig und doch auch vertraut entgegenblicken. An der Nahtstelle zwischen Leben und Kunst, Museum und Stadt, Geschichte und Interpretationslust begegnen sich der Museumswärter Johann und die Amerikanerin Anne, die kurzzeitig nach Wien reisen musste, um einer kranken Verwandten Beistand zu leisten. Es entsteht ein zartes Kennenlernen, eine unverhoffte Vertrautheit, die Johann ein wenig aus seinem gewohnten Alltag und Anne aus ihrer Verlorenheit in der Fremde reißt. Gemeinsam streifen die beiden durch Wien – und vor allem Johann entdeckt dabei einige Seiten seiner Stadt, die er schon längst vergessen hatte…

Dass es sich bei Museum Hours um eine Liebeserklärung an Wien handelt, erkennt man vielleicht nicht auf den ersten Blick, denn grau und trostlos wirken die Aufnahmen von der winterlich bewölkten Stadt, fast so als hätte die Sonne angesichts der farblosen alten Hausfassaden und Seitengassen, der unattraktiven Flaktürme, U-Bahn-Schächte und Fabrikschlote die Lust am Scheinen verloren. Doch all die Besonderheiten in diesem von uns nur zu oft verfluchten grauen Wien aufzuspüren, die nicht selten gut versteckt vor unseren Alltagsblicken in den Ritzen und Ecken der Stadt schlummern, das gelingt Jem Cohen wohl wie noch keinem Anderen.

Ohne zu werten und mit feinsinnigem Gespür für visuelle Raffinesse zeigt er uns das Auffällige ebenso wie das Unscheinbare, das Hässliche wie das Schöne, das Spezielle wie das Gewöhnliche. Wiens große Touristenattraktionen sucht man in Museum Hours eher vergebens, es überwiegen die liebevollen Detailaufnahmen, die Vogelspuren im Schnee, Fenster-Reflexionen, ein altes Ladenschild, die kuriosen Antiquitäten am Naschmarkt-Flohmarkt. Und doch sucht der Film zwischen all den Stadt-Impressionen immer wieder Zuflucht im Kunsthistorischen Museum, taucht ein in die Bilderwelt von Bruegel, reflektiert über die Inhalte seiner Werke, die zugleich die großen Themen menschlichen Lebens an sich widerspiegeln: Sexualität, Religion, Geschichte, Tod.

Am meisten beeindruckt jedoch, dass Jem Cohen all das Dokumentarische mit einer wunderbar schlichten Geschichte, feinstem trockenen Humor sowie zwei außergewöhnlich charmanten Protagonisten verstrickt und so als Ergebnis wohl das schönste Wien-Porträt erschaffen hat, das es bisher auf der Leinwand zu sehen gab. Wenn Cohen letztendlich die Museumsbesucher und auch die Stadtaufnahmen selbst in Kunstwerke verwandelt, dann ist man längst überwältigt von diesem Kino-Liebesbrief an Wien, an Bruegel und an all die besonderen zwischenmenschlichen Begegnungen im Leben, die, egal ob nur flüchtig oder von langer Dauer, genauso kostbar sind wie dieser Film. 

Regie und Drehbuch: Jem Cohen, Darsteller: Mary Margaret O’Hara, Bobby Sommer, Ela Piplits, Laufzeit: 107 Minuten, gezeigt bei der Viennale V’12, Kinostart: 14. 12. 2012