Jane Eyre
Eine junge Frau läuft über eine endlose Moor- und Heidelandschaft. Die Umgebung ist kalt, einsam, verlassen, wie die junge Frau. Das ist Jane Eyre, die Hauptfigur des gleichnamigen, 1847 erschienenen Romans von Charlotte Brontë. Und es ist Mia Wasikowska, die wie keine zuvor die Rolle der Jane spielt…
Der Roman ist nicht nur einer der meistgelesenen der Welt, ebenso populär ist er als Filmvorlage. Mit der Version des Regisseurs Cary Joji Fukunaga („Sin Nombre“) liegt nun bereits die etwa 25. Verfilmung des Stoffes vor. Man müsste meinen, irgendwann ist es genug mit Jane Eyre, aber nein! Fukunaga hat sich einen Platz in der Ahnengalerie verdient, denn er hat ein dramaturgisches und schauspielerisches Schmuckkästchen von einem Film geschaffen. Die Einstellung der flüchtenden Jane ist nicht der Anfang der Geschichte. Fukunaga und die Drehbuchautorin Moira Buffini erzählen sie in einer Rückblende, die eindrucksvoll umgesetzt ist. Technisch und metaphorisch gesprochen, kommen dabei einige Schnitte zum Einsatz, die nicht präziser ausgeführt sein könnten.
Jane Eyre wächst als Pflegekind bei Verwandten auf. Nicht nur die verwitwete Tante (Sally Hawkins als Mrs. Reed) und ihre Kinder, auch die Unheimlichkeit des Hauses und später das feindliche Umfeld des Internats Lowood machen Janes Kindheit zur Hölle. Mit 18 Jahren kommt sie als Gouvernante nach Thornfield Hall, in die Dienste von Mr. Rochester (Michael Fassbender), einem düsteren, unzugänglichen Charakter. Die beiden verlieben sich ineinander, am Tag der Hochzeit offenbart sich jedoch ein dunkles Geheimnis um Mr. Rochester.
Fukunaga setzt mit Hilfe der grandiosen Arbeit des Kameramanns Adriano Goldman das Schaurige und Beklemmende der Gothic Novel in intensive Bilder. Wie Gemälde tun sich Innen- und Außenräume auf. Kerzenschein gibt den dunklen Gemäuern zugleich Geborgenheit und Gespenstisches. Ein Rebhuhn fliegt aus dem Gebüsch auf, ein Ast knarrt, der Wind verfängt sich heulend im Kamin. Es sind die Natur und die kleinen, alltäglichen Begebenheiten, die in Verbindung mit der Empfindung von Einsamkeit Schrecken erzeugen. Es ist, als wäre ein Bild Caspar David Friedrichs lebendig geworden.
Die Schauspieler sind hervorragend. Sally Hawkins ist die bösartige Tante, Judie Dench die liebenswürdige Wirtschafterin in Person. Aber allen voran stehen Wasikowska und Fassbender. Sie geben ein schönes Paar, bei dem die Not und der Zwiespalt, aus denen sich ihre Liebe entwickelt, spürbar ist. Beide halten etwas verborgen, Fassbender Rochesters Geheimnis, Wasikowska Janes Seele. Fassbenders Rochester ist weniger das Ungeheuer des klassischen Schauermärchens, als vielmehr ein vom Schicksal und der Einsamkeit Gezeichneter. Er bleibt verhalten und undurchdringlich.
Noch stärker trifft das jedoch auf Jane zu. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, hat Fukunaga den ganzen Film aus Janes Perspektive gedreht. Alles, was wir sehen und empfinden, sehen und empfinden wir durch sie. Und das funktioniert. Wasikowska gelingt es, die Pole, zwischen denen sich Jane befindet, auszudrücken. Sie zeigt eine stoische Haltung, die ihre Scheu und ihren Stolz miteinander vereint. Sie trägt ein marmornes Gesicht, das kaum lächelt, aber wenn es sich auftut voll Zauber ist. Wir sehen eine junge Frau, die Freiheit will und doch gefangen ist. Tatsächlich ist es nicht die Liebesbeziehung, die im Zentrum steht, es ist das eigentümliche Wesen Jane Eyre.
Nicht zuletzt ist es auch dem Drehbuch von Moira Buffini zu verdanken, dass „Jane Eyre“ ohne Kitsch auskommt. Und dass, obwohl Buffini mit Originalzitaten aus dem Roman, also der Sprache des 19. Jahrhunderts, arbeitet. Der Film ist wortkarg, doch was gesagt wird, wirkt weder veraltet noch pathetisch (es sei denn, man hat zu Angelegenheiten der Seele generell ein nüchternes Verhältnis).
Der Film scheint makellos. Doch durch den Übergang von der Rückblende zur Gegenwart entsteht eine Zäsur, die auch eine gewisse Lösung der Spannung bewirkt. Das kann sowohl positiv, als auch negativ empfunden werden. Fukunaga ist jedenfalls etwas Verblüffendes gelungen. Er hat nicht nur eine beispielhafte Romanverfilmung geliefert, er hat den Roman auch zum Leben erweckt. Und Wasikowska spielt eine Jane, wie sie Brontë geschrieben hat. Genau das wünscht man sich von gutem Kino: Lebende Bilder.
Regie: Cary Fukunaga, Drehbuch: Moira Buffini, Darsteller: Mia Wasikowska, Michael Fassbender, Jamie Bell, Imogen Poots, Judi Dench, Sally Hawkins, Laufzeit: 120 Minuten, Kinostart: 02.12.2011