Genius
„Wir sind nicht die Charaktere, die wir sein wollen, wir sind die Charaktere, die wir sind.“ Die Worte des egomanische Autors Thomas Wolfe (Jude Law) zu seinem Verleger Maxwell Perkins (Colin Firth) passen ebenso gut auf die Figuren in Michael Grandages Kinodebüt Genius.
Die Charaktere des britischen Theaterregisseurs wollen enigmatische Schriftsteller-Ikonen sein. Eher jedoch sind sie hölzerne Marionetten in einem unausgewogenen Paradestück darüber, was Weltliteratur angeblich ausmacht. Um Romanautor zu sein, müsse man auswählen, gestalten und formen, sagt Perkins. Damit beschreibt er tatsächlich die Fähigkeiten, die ihn für seine Autoren-Schützlinge unverzichtbar macht. Im Bücherregal in Perkins Büro, das die Kamera mehrfach bewundert, reihen sich Klassiker von Henry James, F. Scott Fitzgerald (Guy Pearce) und Ernest Hemingway (Dominic West), alle publiziert von seinem prestigeträchtigen Verlagshaus Charles Scribner’s Sons.
Als in den 20er der ungestüme Neuling Wolfe bei ihm vorspricht, erkennt Perkins sofort die Brillanz des Mannes und seiner Mammutwerke. Grandage nennt sein Biopic eine Vater-Sohn-Geschichte. „Mehr als alles auf der Welt wollte Max einen Sohn“, gesteht Perkins Ehefrau Louise (Laura Linney) Wolfes Partnerin Aline Bernstein (Nicole Kidman). Perkins Tragödie scheint, dass er fünf Töchter hat. Die genialen weißen Männer plagen sich mit den Frauen in ihrem Leben. Wolfes und Perkins Frauen sind eifersüchtig auf die Männerfreundschaft und Fitzgerald bittet Perkins um Geld, um Gattin Zelda von der staatlichen Psychiatrie in eine Privatklinik zu verlegen. Keine Rede davon, dass Scott Zelda erst einweisen ließ, ihre Scheidungspläne vereitelte und Zelda „seine“ erfolgreichen Kurzgeschichten schrieb.
Drehbuchautor John Logan bemerkt auf der Pressekonferenz, wie clever A. Scott Berg im Titel seiner 1987 erschienen biografischen Vorlage Max Perkins: Editor of Genius offen lässt, wer das Genie ist: Max Perkins oder seine Schriftsteller. Eines aber stellt die Verfilmung klar: ein Genie ist ein Mann. „Gehen Sie zurück zu ihrer Familie!“, ermahnt Louise Aline, nebenbei eine der bedeutendsten Designerinnen der Ära, Autorin und Mitgründerin des Museum of Costume Art des Met. Genius lässt sich als einfach noch ein intellektuell angehauchtes Mainstream-Drama sehen, in dem Jude Law das krasseste Overacting dieser Berlinale abliefert.
Dahinter aber verbirgt sich der jüngste Eintrag in einen Kanon fiktiver und realer Künstlerbiographien, die uns ein spezifisches Bild davon vorgeben, was unter Genie zu verstehen sei. Schwarze Jazz-Musiker liefern die „dunklen Rhythmen“ bei denen ein Weltklasse-Autor wie Wolfe entspannt, „seine Jüdin“ Aline das nötige Geld und Arbeiter-Frauen sexuelle Ablenkung. Aber ewige, poetische Worte sind weißen, heterosexuellen, christlichen Männern, vorzugsweise aus dem bürgerlichen Milieu vorbehalten. Mehr Vielfalt habe es nicht gegeben, behauptet Logan. Dabei hatte der reale Perkins Künstler wie die afroamerikanische Zora Neale Hurston, die dreimal für den Literatur-Nobel-Preis nominierte Edith Wharton oder Pulitzer-Preisträgerin Marjorie Kinnan Rawlings unter Vertrag. Sie wurden sorgsam aus der „wahren Geschichte“ hinausgestrichen.
Einmal sagt Perkins, er grübele oft, ob er die Werke seiner Autoren verbessere oder verstümmele. Die Filmemacher kannten solche Zweifel augenscheinlich nicht und wirken reaktionärer als es vor fast 100 Jahren ihr Hauptcharakter war.
Regie: Michael Grandage, Drehbuch: John Logan, A. Scott Berg (Roman), Darsteller: Nicole Kidman, Jude Law, Colin Firth, Guy Pearce, Dominic West, Laura Linney, Filmlänge: 104 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2016