Murer – Anatomie eines Prozesses
Programmatisch in einer kritischen Haltung gegenüber aktuellen politischen Entwicklungen eröffnete gestern Abend die Diagonale in Graz. Der Eröffnungsfilm beleuchtete einen der spektakulärsten Kriegsverbrecherprozesse des Nachkriegsösterreich, den Fall Murer im Jahr 1963.
Der steirische Großbauer Franz Murer (Karl Fischer) war im Zweiten Weltkrieg im Ghetto der litauischen Hauptstadt Vilna stationiert gewesen. Die Bewohner nannten ihn „Schlächter von Vilnius“. Wenn er mit seinem Wagen durch das Ghetto fuhr, raunten sie: „Hier fährt der Tod.“ Unhörbar, denn sie lebten in ständiger Angst. Kontrollen handhabte er brutal, bestrafte Schmuggel mit dem Tod und schien dabei das Morden zu genießen. So berichteten die jüdischen Zeuginnen und Zeugen, die vom Verteidiger (Alexander E. Fennon) für unglaubwürdig erklärt wurden. Erinnerungslücken wie falsche Datumsangaben und Irrtümer wie solche in der Farbe der Uniform dienten der Entlastung des Angeklagten. Verwechslungen seien es, so das Hauptargument, und Murer wäre dort für ganz andere Angelegenheiten zuständig gewesen. Ein Schöffengericht sprach ihn in allen Anklagepunkten frei.
Regisseur und Drehbuchautor Christian Frosch konzentriert sich auf die Zeugenaussagen und die Geschworenen, auf Leid auf der einen und Ignoranz auf der anderen Seite. Es geht um Fragen wie darum, seine Pflicht zu tun, die Wahl zu haben, Opfer zu Tätern zu machen, um Vorurteile und Verschwörungstheorien. Vielleicht die größte Schwäche des Films ist, dass er nichts Dokumentarisches, sondern immer Gespieltes vermittelt und Gefahr läuft, sich im Bemühten zu verausgaben. Der Eindruck entsteht, dass Figurenzeichnung, Bildaufbau und Schauspiel (das nur in wenigen Momenten überzeugend ist) eingepasst werden, ohne wirkungsvoll ineinander aufzugehen und auch ohne dabei das Moment der Inszenierung und des Rollenspiels, die so ein Gerichtsfall ist, konstruktiv widerzuspiegeln. Figuren, wie die Reminiszenz an Hanna Arendt in Gestalt der amerikanischen Journalistin, werden zum ungelenken Stereotyp. Karl Markovics als Simon Wiesenthal irritiert. Ebenso Ernie Mangolds unmotivierter Kurzauftritt als Großmutter eines Geschworenen, eine Art Allegorie des Gewissens? Nur Murer scheint eine Ausnahme darzustellen, nicht dämonisch, sondern unzugänglich bleibt seine Persönlichkeit.
Neben all dem Gewollten werden die Abgründe der österreichischen Vergangenheit und die Verfehlungen im Umgang verdeutlicht. Nur in Ansätzen gelang jedoch eine Reflexion über Schuld und Unschuld, denn anatomisch kann die filmische Vorgangsweise nicht genannt werden. Emotionen und emotionalisierte Inszenierung und Kameraführung sind der tragende Tonfall des Films. Da wird ein Gefühlsausbruch schon mal zur Platitüde und manch Bemerkung unpassend komisch. Das mutet nicht zuletzt deshalb besonders befremdlich an, weil Sebastin Höglinger und Peter Schernhuber in ihrer Eröffnungsrede von den Gefahren der kontrolliert gelenkten Emotionalisierung, insbesondere in der Politik, sprachen. Die Stärke des Films ist es allerdings, dass er betroffen macht angesichts des nationalen und persönlichen Selbstverständnisses und der Ohnmacht diese zu durchbrechen und fassungslos angesichts mancher Kontinuitäten, die bis in die Gegenwart gezogen werden können. So ist Murer – Anatomie eines Prozesses letztlich ein Stimmungsbild, mehr Statement und Mahnmal als ein filmisches Meisterwerk.
Regie und Drehbuch: Christian Frosch, Besetzung: Karl Fischer, Karl Markovics, Alexander E. Fennon, Roland Jaeger, Melita Juristic, Ursula Ofner-Scribano, Gerhard Liebmann, Filmlänge: 137 Minuten, Kinostart: 16.03.2018, gezeigt auf der Diagonale 2018