Mein Leben als Zucchini
„Wir sind alle gleich“, sagt Simon, der die anderen Kinder im Heim ständig triezt, „Es gibt keinen mehr, der uns liebt.“ Das glaubt zuerst auch der 9-jährige Icare, der von allen nur Zucchini genannt werden will. Doch Claude Barras beweist in seinem zauberhaften Animationsfilm voller Herz und Verstand, dass die Welt selbst an den vermeintlich dunkelsten Orten nicht finster sein muss.
Ein solcher Ort ist das Kinderheim, an dem sich die Puppentrickanimation nach dem Roman Autobiogrphi d’une Courgette von Gilles Paris entfaltet. Kinderheime sind in Büchern traditionell grausige Stätte der Gefühlskälte und bis heute halten sie nicht wenige gutbürgerliche Familien für Auffangbecken für sozial inkompatible Psychokids. Dieses Klischee und eine Menge anderer Vorurteile gegen Waisenkinder und solchen, die getrennt von ihren Familien aufwachsen, führt die Handlung auf köstliche Weise vor. Da ist die kleine Beatrice, deren Mutter abgeschoben wurde. Ahmed, dessen Vater aus materieller Not einen Raubüberfall beging und im Knast landete, oder Jujube, dessen Mutter an Zwangsstörungen leidet und mit sich selbst überfordert war.
Einige der Biografien der bunten Truppe, die für Zucchini schnell zur liebevollen Ersatzfamilie wird, sind zu grausam, um sie in einem Kinderfilm voll auszumalen. Es ist diese seltene Ehrlichkeit gepaart mit Realismus, mit der das 66 Minuten lange Kunststück Erwachsene und Kinder gleichermaßen ans Herz geht. Barras und Drehbuchautorin Céline Sciamma setzen dem Schmerz Augenblicke von tiefer Zuneigung entgegen. Kein rührseliges Schmalz, sondern unscheinbare Alltagsmomente, in denen die Kinder sein dürfen, was sie sind: Kinder, die Streiche aushecken, spielen, sich raufen und verlieben. Letzteres passiert dem kleinen Helden mit der ebenfalls neuen Camille. Das selbstbewusste Mädchen scheint das Gegenteil des schüchternen Zucchini, der einige Anpassungsschwierigkeiten meistern muss.
Doch eine der kleinen Lebensweisheiten, die von den kuriosen Puppenfiguren vermittelt wird, ist, dass Gegensätze sich ergänzen und Zusammenhalt stark macht. Nicht zuletzt braucht es engagierte Erwachsene, um den Kleinen einen Neustart ins Leben zu ermöglichen. Als Prototypen stehen hier der warmherzige Polizist Raymond, die resolute Heimleiterin, ein lässiger Lehrer und eine beherzte Sozialarbeiterin. Sie respektieren die Gefühle der Kinder und nehmen sie ernst, was ihnen sogar bei Rowdys wie Simon mehr Autorität einbringt als Strafen. All dies und die ulkige Stop-Motion-Kreativität machen Mein Leben als Zucchini zu einem Ausnahmewerk, das so mutig und unerschrocken ist wie seine Protagonisten. Bei der Oscarverleihung heißt es: Daumen drücken.
Regie: Claude Barras, Drehbuch: Céline Sciamma, basierend auf dem Roman von Gilles Paris, Synchronsprecher (original): Gaspard Schlatter, Sixtine Murat, Paulin Jaccoud, Michel Vuillermoz, Filmlänge: 66 Minuten, Kinostart: 16.02.2017