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Alphabet

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Doku

Nach We Feed The World und Let’s Make Money, in denen er sich mit den haarsträubenden Machenschaften der Nahrungsmittel- bzw. Finanzindustrie beschäftigte, widmet sich der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer mit Alphabet nun dem Thema Bildung und zeigt, dass auch hier ökonomisches Kalkül längst gegenüber humanistischen Prinzipien die Oberhand gewonnen hat.

Der Film entführt die Zuschauer an verschiedene Schauplätze, angefangen mit der trostlos wirkenden Wüstenlandschaft des Death Valley in Nevada, über China, bis nach Frankreich, Deutschland und Spanien. Der Blick ist dabei bewusst auf westliche Gesellschaften gerichtet, in denen das Thema Bildung nicht nur auf sozialer und politischer Ebene verhandelt wird, sondern zunehmend auch zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden ist. Menschen unterschiedlicher kulureller und sozialer Herkunft werden befragt, darunter anerkannte Bildungsexperten und Forscher wie Sir Ken Robinson, Yang Dongping, der „Vater“ der PISA-Studie Andreas Schleicher, der Neurowissenschafter Gerald Hüther oder der Pädagoge und Forscher Arno Stern. Sie alle vertreten unterschiedliche Herangehensweisen und Positionen zum Thema Bildung, haben aber gemeinsam, dass sie in den gegenwärtigen Bildungssystemen großen Änderungs- und Verbesserungsbedarf sehen. Daneben werden aber auch Menschen gezeigt, die sich mit dem Thema Bildung von einer nicht akademischen Seite beschäftigen, nämlich Schülerinnen und Schüler, Eltern und Pädagogen, sowie System-Gewinner und -Verlierer.

Alphabet wählt eine recht subjektive, auf den ersten Blick unwissenschaftliche, Herangehensweise an sein Sujet. Obwohl der Filmdiskurs sehr stark von Akademikern bestimmt wird, stehen nämlich empirische Studien und Forschungsergebnisse eher im Hintergrund. Die Zuschauer werden somit nicht ständig von Fakten und Statistiken bombardiert, sondern in einer langsamen, stellenweise fast meditativen, Erzählweise mit grundsätzlichen philosophischen, pädagogischen und realpolitischen Fragestellungen konfrontiert. Zum Entspannen verleitet Alphabet trotzdem nicht, taucht man doch gleich zu Beginn in die harsche Realität von Schülern ein, die in einem System aufwachsen, das von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken beherrscht wird.

Ausgehend von China wird eine wirtschaftlich orientierte und strukturierte Bildungssystematik beschrieben, die ihre Wurzeln schon im Zeitalter der Industrialisierung hat und darauf abzielt, Menschen zu produktiven und leicht steuerbaren Wirtschaftssubjekten zu formen, die danach bewertet werden, ob sie die vorgegebenen Bildungsstandards erfüllen und sich damit in dieses System integrieren können. Kreatives Miteinander, Erforschung und Förderung der eigenen Talente und Individualität sind in diesem System nachrangig, ja sogar unerwünscht. Das bewirkt, dass Begabungen ungenutzt, Stärken unerkannt und damit menschliche Potentiale unausgeschöpft bleiben. Dass dieses Zurechtbiegen und Einschränken der menschlichen Natur allerdings völlig zuwiederläuft, lässt sich daran veranschaulichen, dass – und hier bemüht Alphabet doch die Statistik – 98% der Menschen genial geboren werden, nach einer jahrelangen Schulbildung jedoch nur mehr 2% dieses Maß an Genialität, das heißt an kreativem Denken, vorweisen können.

Solche Aussagen erschrecken und führen die Dimensionen und weitreichenden Auswirkungen eines so grundsätzlich unsere Gesellschaft bestimmenden Systems anschaulich vor Augen. Alphabet ist aber nicht in allen Bereichen so eindrücklich und leicht zugänglich gestaltet. Stellenweise kann man, angesichts der losen Aneinanderreihung von Schauplätzen und Akteuren, nämlich schon mal die Übersicht verlieren und sucht zwischen der Vielzahl an Positionen und Perspektiven einen roten Faden, an den man sich halten könnte. Diese Zerfahrenheit ist aber auch der großen Komplexität des Themas geschuldet und der routinierten und den Blick fürs Wesentliche behaltenden Herangehensweise Wagenhofers ist es zu verdanken, dass letztendlich doch ein halbwegs runder, in sich abgeschlossener Film entsteht, der keine konkreten Lösungen für eine längst überfällige Auseinandersetzung mit dem Thema Bildung liefert, jedoch zeigt, wie wichtig es ist, eine solche ganz grundsätzliche Debatte überhaupt einmal zu führen.

Am Ende von Alphabet schließt sich der Kreis, wenn man wieder zurück in die Wüste geführt wird und der Film zu einem betont hoffnungsvollen Ausblick einlädt. Ein gewisses Gefühl von Desillusionierung und Hilflosigkeit bleibt dennoch zurück, angesichts der Allmacht und scheinbaren Unbeweglichkeit des herrschenden Systems. Um an althergebrachten Mustern und eingefahrenen Systemen etwas zu ändern, sind nicht nur Mut zur Veränderung und Bewegung nötig, sondern auch jene grundsätzlich menschlichen Eigenschaften, die das starre Bildungssystem seinen einzelnen Subjekten schon von Kindheit an sukzessive abtrainiert, nämlich Individualität, Kreativität und Neugierde.

Die Frage, die also am Beginn jeder Bildungsdebatte stehen muss, und die Alphabet mit Nachdruck stellt, ist eine grundsätzlich humanistische: Wollen wir Kinder mit Gewalt und unter Angst zu etwas formen, für das sie nicht geschaffen sind, oder wollen wir nicht jeden Menschen darin unterstützen und bestärken, die eigenen Talente und Stärken zu entdecken und auszuleben? Oder, anders gefragt, wollen wir in einer Welt leben, die von zurechtgestutzten Einheitsmenschen bevölkert ist oder in einer, in der jedem Einzelnen Raum für Abweichung und Selbsterfüllung gegeben wird?

Regie: Erwin Wagenhofer, Drehbuch: Sabine Kriechbaum, Erwin Wagenhofer
Mitwirkende: Sir Ken Robinson, Yang Dongping, Andreas Schleicher, Gerald Hüther, Arno Stern
Laufzeit: 109 Minuten, Kinostart: 11.10.2013, www.alphabet-derfilm.at