Tormented
Weißen Kaninchen ist nicht zu trauen, das wissen wir spätestens seit Monty Pythons Die Ritter der Kokosnuss. In Tormented entführt ein ebensolcher Nager zwei Geschwister in eine unheimliche Welt, in der die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verschwimmen.
Der kleine Daigo (Takeru Shibuya) ist ein zurückgezogenes Kind. Wirklichen Bezug hat er nur zu seiner stummen älteren Halbschwester Kiriko (Hikari Mitsushima). Der gemeinsame Vater (Teruyuki Kagawa) ist nach dem Tod von Daigos Mutter in sich gekehrt und kümmert sich wenig um seine zwei Sprösslinge. Als Daigo eines Tages aus Mitgefühl ein sterbendes Kaninchen tötet, wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die sich alptraumhaft um das weiße Nagetier verstrickt. Im Kino fliegt dem Jungen ein weißes Stoffkaninchen durch die Leinwand zu, das ihn fortan jede Nacht in Menschengröße aufsucht und zu einem unheimlichen Rummelplatz entführt. Kiriko macht sich Sorgen um ihren Bruder, der durch die nächtlichen Heimsuchungen immer verängstigter wird. Doch nichts ist so, wie es zunächst scheint, denn mit dem Auftauchen des weißen Kaninchens wird nach und nach eine dunkle Familiengeschichte aufgedeckt und bis dahin Verdrängtes kommt langsam ans Licht.
Wen die Prämisse von Tormented (OT: Rabitto horā) ein wenig an Alice im Wunderland erinnert, der liegt nicht so falsch. Takashi Shimizu, der für die Ju-on Reihe und deren amerikanische Remakes unter dem Titel The Grudge verantwortlich zeichnete, lässt seine jungen Protagonisten ebenfalls einem weißen Kaninchen auf eine Entdeckungsreise nachfolgen. Dabei verschlägt es die Beiden aber nicht in eine fremde, märchenhafte Welt, sondern ins alptraumhafte Zerrbild eines Schauplatzes, der sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft der Familie eine entscheidende Rolle spielt. Die Hasenfigur könnte also genausogut Donnie Darko entsprungen sein. Der Vergleich mit Matrix wird an dieser Stelle nicht bemüht, selbst wenn dieser auch in gewisser Weise berechtigt wäre, denn in Tormented kann man sich bis zuletzt seiner Sache nicht sicher sein. Was ist real, und was imaginiert? Gibt es den Geist der (Stief-)Mutter (natürlich mit langen schwarzen Haaren) wirklich, oder ist dieser nur Einbildung? Wie hängt das alles mit dem weißen Kaninchen und dem Rummelplatz zusammen?
Fragen stellen sich einem im Verlauf des Filmes viele und die Antworten kommen allmählich und bruchstückhaft, sodass man als Zuschauer am Ende mit lose aneinander gereihten Puzzleteilen konfrontiert ist, die mehr oder minder ein ganzes Bild ergeben. Kein schönes Bild, wohlgemerkt, denn abgesehen von manch märchenhaft erscheinenden Figuren und der poetischen Bildsprache, die durch die wohlplatzierten 3D-Effekte an manchen Stellen besonders gut zur Geltung kommt, ist Tormented in erster Linie Drama und düstere Fabel über den Umgang mit dem Tod, über psychische Verarbeitungs- und Verdrängungsprozesse und nicht zuletzt über Schuld und Sühne.
Obwohl diese Thematiken in einer eindringlichen Optik kunstvoll miteinander verwoben sind, kann einen die dargestellte Dramatik aber nicht mit voller Wucht treffen. Zu viele lose Stränge ergeben ein auf den ersten Blick konfuses Gesamtbild, das bei genauerer Überlegung zwar großteils Sinn ergibt, doch dann ist man schon längst aus dem Kinosaal in die Realität entlassen worden und kann die gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr mit der intensiven Filmatmosphäre in Einklang bringen. Shimizu gelingt es nicht ganz, Sinnes- und Verstandesebene so stimmig miteinander zu verknüpfen, dass sich ein homogenes Gesamtbild aus Wörtlichkeit und Metaphorik ergibt. Dadurch ist ein Film entstanden, der entweder wegen seiner Komplexität noch lange in einem nachhallt, oder den man, aufgrund seiner Inkohärenz, schnell wieder vergisst.
Regie: Takashi Shimizu, Drehbuch: Sotaro Hayashi, Daisuke Hosaka, Takashi Shimizu
Darsteller: Hikari Mitsushima, Takeru Shibuya, Teruyuki Kagawa, Tamaki Ogawa
Laufzeit: 83 Minuten, gezeigt beim /slash Filmfestival