Le Havre
Dass Aki Kaurismäki ein ganz spezielles Händchen dafür hat, seine Filme zwischen Humor und Tragik balancieren zu lassen, herzergreifende Geschichten zu entfalten und liebenswürdig skurrile Typen zu casten, das weiß man bereits…
Auch sein neues Werk Le Havre trägt Kaurismäkis unverkennbare und stilsichere Handschrift, beweist dabei jedoch wohl noch stärker als je zuvor, dass der finnische Regisseur zweifellos zu den ganz großen Meistern des europäischen Autorenkinos zählt.
Kaurismäki erzählt uns in Le Havre – benannt nach der gleichnamigen nordfranzösischen Hafenstadt – eine kleine Episode aus dem Leben des gesellschaftlichen Aussteigers und Schuhputzers Marcel Marx, der mit seiner Frau ein bescheidenes doch glückliches Dasein fristet, als eines Tages ein illegaler afrikanischer Flüchtlingsjunge bei ihm Zuflucht sucht. Ohne zu zögern fasst Marx den Entschluss, dem bereits von blindwütiger Einwanderungsbehörde und Polizei gesuchten Idrissa Hilfe zu leisten. Und er ist nicht der Einzige. Doch der hartnäckige Inspektor Monet hat bereits die Fährte aufgenommen…
Le Havre ist einer jener seltenen Filme, an die man bereits mit den ersten paar Bildern unweigerlich sein Herz verliert. Schlichtweg jede Einstellung, jede Szene, jeder gesprochene Satz, jedes Dekor und jedes Gesicht, dem Kaurismäki Aufmerksamkeit widmet, ist hier schon ein kleines Meisterwerk an sich, enthält so viel unwiderstehlichen Charme, so viel inszenatorische Raffinesse, so viel überwältigende Situationskomik und zugleich bittersüße Traurigkeit, dass man beim Zuschauen aus dem glücklich-verzauberten Dahinschmelzen gar nicht mehr herauskommt. Hinzu gesellt sich Kaurismäkis ausgezeichneter Sinn für Farbdramaturgie und Lichtsetzung, für besondere Details, für unschlagbar skurril-lakonische Dialoge, eine liebenswürdige Milieugestaltung und zahlreiche noch liebenswürdiger gezeichnete Charaktere, die alle so wunderbar schräg und außergewöhnlich sind, dass sie jeder für sich leicht einen eigenen Film füllen könnten.
Inhaltlich greift Le Havre zwar ein politisch hoch brisantes Thema auf, behandelt dieses jedoch auf ungewohnt leichte und zeitlose Weise – nicht als schwermütiges politisches Drama, sondern als berührende Komödie mit märchenhaften Zügen. Wohingegen Kaurismäki in seinen früheren Filmen meist geradezu unerträgliches Unrecht regieren ließ und Kritik an einer Gesellschaft übte, die sich nicht um ihre Schwächsten kümmert, so scheint er sich in Le Havre mehr denn je auf die Suche zu begeben nach Menschlichkeit, Solidarität und Sozialcourage in einer Welt, in der es an diesen Werten nicht selten mangelt. Und die Menschlichkeit, die uns Kaurismäki dabei an den unwahrscheinlichsten Orten finden lässt, ist in ihrer Einfachheit so überwältigend und kraftvoll, dass sie Einem doch tatsächlich ein kleines Stückchen Hoffnung in die Spezies Mensch zurückzuschenken vermag.
Da stört es auch kein bisschen, dass das Happy End im Grunde viel zu schön ist, um wahr zu sein. Denn wenn uns Aki Kaurismäki in seiner filmischen Märchenwelt verspricht, dass das Gute doch zumindest hin und wieder zu triumphieren vermag, so glauben wir gerne daran.
Regie und Drehbuch: Aki Kaurismäki, Darsteller: André Wilms, Kati Outinen, Jean-Pierre Darroussin, Blondin Miguel, Elina Salo, Evelyne Didi, Filmlänge: 93 Minuten, Kinostart: 03. 11. 2011