Elle
Sollte Paul Verhoevens makaberer Thriller überhaupt enttäuschen, dann diejenigen, die blind auf die irreführenden Inhaltsangaben im Netz vertraut haben. Vielmehr sind die vielen falschen Synopsen ein Parameter dafür, wie radikal das ausgeklügelte Gesellschaftsporträt mit der Erwartungshaltung des Publikums bricht.
In seinem ersten Kinofilm seit gut einem Jahrzehnt verzichtet der Regisseur rigoros auf einen konventionellen Handlungsfaden, der aus dem Labyrinth pathologischer Zustände führen könnte. Doch das heißt nicht, dass in Elle nicht viel passiert. Das Innenleben der Heldin scheint ständig in Aufruhr, wenn auch nur feine Nuancen davon durch ihre beherrschte Oberfläche dringen. Isabelle Huppert ist unbestreitbar brillant in der Hauptrolle. Es ist ihr Film mehr noch als Verhoevens, der wie ein Katalysator fremden Talents wirkt. Die Story lieferte Philipe Dijans Roman Oh …, dessen suggestiver Titel auf das psychosoziale Minenfeld zwischen Gewalt und Begierde verweist, auf das sich der Plot begibt.
Die Handlung beginnt mit einem Gewaltakt – nicht der Letzte, der detailliert ausgespielt wird. Doch die Reaktion der Hauptfigur ist weit entfernt von allen narrativen Konstrukten über das Verhalten einer missbrauchten Frau. Michèle Leblanc (Huppert) ist nicht das Opfer, in dessen Rolle der maskierte Täter sie zwingen will. Die Chefin einer Computerspielfirma hat ihr Berufs- und Privatleben fest im Griff, während ihr selbstmitleidiger Ex-Mann Richard (Charles Berling), beider unreifer Sohn (Jonas Bloquet) und Michèles egozentrische Mutter Irene (Judith Magre) passiv-aggressiv um materielle Unterstützung buhlen. Statt eines Krimis entfaltet sich eine köstliche Menschenstudie, deren Motor omnipräsente Misogynie ist. Michèle weiß, dass die Polizei nicht helfen wird, besonders keiner wie ihr, die durch ihren blutrünstigen Vater stigmatisiert ist. Der unbekannte Täter, der sich mit abstoßenden Nachrichten in ihr Privatleben drängt, wird zur Chiffre, hinter der sich jeder Mann in ihrem Umfeld verbergen könnte.
Der arrogante Gatte (Christian Berkel) ihrer Freundin Anna (Anne Consigny), mit dem sie eine Affäre hat, die männlichen Kollegen, die mit ihrer Autorität hadern oder der schmierige Nachbar (Laurent Lafitte), dessen Ehefrau (Virginie Efira) im Glauben Zuflucht sucht: Jeder kultiviert seine sadistischen Impulse. Die unausweichliche Prägung durch das frauenverachtende Milieu macht die Protagonistinnen indirekt zu Komplizinnen ihrer Erniedrigung und Ausbeutung. Auch Michèle wandelt auf dem schmalen Grat zwischen Masochismus und Faszination mit der Gewalt, die sie ihrerseits gegen den Angreifer kehren könnte. Doch die ebenso unerbittliche wie fesselnde Demaskierung einer routinierten Alltagsperversion ist zu intelligent für simple Rape-and-Revenge-Phantasien. Der Triumph von Elle ist strategisch, genauso wie der seiner grandiosen Heldin.
Regie: Paul Verhoeven, Drehbuch: David Birke, basierend auf dem Roman Oh … von Philippe Djian, Darsteller: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Charles Berling, Filmlänge: 130 Minuten, Kinostart: 24.02.2017