Marriage Story
Eine Ehe liegt auf dem OP-Tisch. Noah Baumbach als Chirurg tritt heran und beginnt zu sezieren, was falsch gelaufen ist, was man hätte tun sollen und in welchem Gefühlschaos alles endet. Großes Scheidungskino.
Nicole (Scarlett Johansson) und Charlie (Adam Driver) leben in einer Bilderbuchehe. Gemeinsam mit ihrem Sohn Henry (Azhy Robertson) ist das idolisierte Familienbild komplett. Zumindest für die ersten paar Filmminuten. Die Ehe der beiden steht vor dem Abgrund und letztere Konflikte führen dazu, dass es zur unumgänglichen Scheidung kommt. Nun beginnt ein Prozess, welcher viele Familien auseinandergerissen hat und auch das Dreiergespann von Nicole, Charlie und Henry bis aufs äußerste strapaziert. Eine Ehe bricht auseinander, aber eine Familie hält zusammen.
Aristoteles hat in seinem Werk Poetik eine klare Trennung zwischen der Tragödie und der Komödie proklamiert, welche bis heute in Literatur, Film, Theater und Musik definierenden Charakter hat. Hätte Aristoteles Marriage Story gesehen, hätte er sich die Haare gerauft und frühzeitig den Kinosaal verlassen. Wieso? Weil Baumbach gekonnt zwischen den beiden Genres hin und her schwingt. Er bringt Szenen auf die Leinwand, bei denen man ehrlich auflachen muss, nur um im Augenblick danach das Lachen, mit tragischen Elementen, im Keim zu ersticken. Ein Klos im Hals, der verdammt weh tut. Das Theater und/oder der Kampf einer Scheidung wird hier äußerst gefühlvoll attackiert. Auf der einen Seit ist der Film sehr hart und konsequent, was den Prozess mit all seinen zerstörerischen Ergebnissen ausmacht. Gleichzeitig ist der Film jedoch sehr zärtlich, im Umgang mit der Liebe zweier Menschen zueinander und vor allem zu ihrem Sohn. Man ist als Zuschauerin, als Zuschauer hin und her gerissen, wechselt ständig die Seiten der Eheleute. Man ist wütend auf die eine Partei, gleichzeitig versteht man sie auch, will es aber nicht. Das Ganze wird von einer anhaltenden Traurigkeit unterspült, die kein Auge trocken lässt. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
Dass diese Emotionen so immanent in Marriage Story leben, liegt an zwei Hauptgründen: Drehbuch und Schauspiel. Wunderschön geschriebene Wutreden, herzzerreißende Gespräche zwischen Vater und Sohn und humorvolle Auseinandersetzungen mit Anwälten, zeigen im aktuellsten Werk von Baumbach, wie wichtig ein gutes Skript ist. Die Narration schlängelt sich flexibel durch die einzelnen Eskalationsspitzen zu einem Ende hin, bei welchem jede und jeder für sich entscheiden muss, ob es sich um ein Happy End handelt. Leider wird Marraige Story gerade im Mittelteil etwas langatmig und verliert ein wenig den zu Beginn sehr starken Zug. Ein absolutes Highlight im Film ist das Schauspiel. Die beiden Protagonisten Scarlett Johansson und (gerade) Adam Driver liefern hier eine Leistung ab, die hervorragend ist. Mit Inbrunst, Leidenschaft, Traurigkeit und Wut lassen sie Szene für Szene das Publikum lachend, weinend und fassungslos im Kinosessel zurück. Man könnte szenenweise sogar denken, dass hier bei beiden Erfahrungen aus der Realität prägend für das Spiel sind. Weiters sind auch die Nebenfiguren klasse, allen voran die wunderbare Laura Dern, als hinterhältige Scheidungsanwältin in rosaroten High Heels. Ein Wolf im Cocktailkleid.
Was leider auf der Strecke bleibt ist die Perspektive des Sohnes. Marriage Story versteift sich zu viel auf die Sichtweise der beiden Eheleute und vergisst dabei komplett, was für ein Druck eine Scheidung auf ein Kind ausüben kann. Henrys Gefühlswelt bleibt unergründet. Ein weiterer Kritikpunkt ist wie bereits erwähnt, die Länge. Der Film plätschert ein wenig vor sich hin, bevor die prominentesten Figuren im Hintergrund, nämlich Hirn und Herz, getrennte Wege gehen und sich die beiden Protagonisten in ihrer neuen Lebenssituation disziplinieren müssen. Wird dieser Punkt erreicht, nimmt Marriage Story neu Fahrt auf, wird erneut lebendiger.
Marriage Story ist eine Wucht. Weil er Emotionen so einprägsam durch den Kinosaal schickt. Weil Baumbach die Parteien begreifen, brechen und doch eigentlich beglücken will. Weil dieser Film so großartig gespielt ist. Weil er Wut, Angst, Trauer, Disziplin und Arbeit dieses Prozesses so wunderbar auf den Zuschauer überträgt. Und weil sich die Figuren trotz allem noch sehr menschlich anfühlen.
Regie und Drehbuch: Noah Baumbach, Darsteller: Scarlett Johansson, Adam Driver, Laura Dern, Ray Liotta, Azhy Robertson, Alan Alda, Filmlänge: 136 Minuten, Filmstart (Netflix): 06.12.19, gezeigt auf der Viennale 2019