Tremors
Soziale Ächtung, repressive Gemeinschaftshierarchie, sexuelle Tabus, systempolitische Unterdrückung, religiöser Dogmatismus und familiäre Unterwerfung vor dem symbolisch aufgeladenen Hintergrund bedrohlicher Naturgewalt – jene integralen Motive von Jayro Bustamantes Regiedebüt prägen auch seinen zweiten Spielfilm, mit dem er nach vier Jahren auf die Berlinale zurückkehrt.
Das urbane Setting ist äußerlich grundverschieden von dem entlegenen Bergdorf in Ixcanul, doch Zwangsstrukturen bestehen fort. Die Natur selbst scheint gegen ihre Unterdrückung aufzubegehren mit Vulkangrollen oder wie hier Erdbeben, doch die kirchliche Doktrin fehlübersetzt ihre Zeichen. Abweichungen werden unerbittlich geahndet.
Der heuchlerische Gestus der Aufgeklärtheit und Empathie macht den Prozess noch perfider. Die Betroffenen brechen nicht unter unmittelbarer Gewalt, sondern innerem Druck, ausgelöst durch öffentliche Stigmatisierung, private Isolation und implementierte Schuldgefühle. Davor kann sich niemand unter der Bettdecke verstecken, wie es Pablo (Juan Pablo Olyslager) zu Beginn versucht. Der selbst ergrauende Familienvater wird zum hilflosen Kind im Kreis seiner Familie, die ihm Entehrung vorwirft. Gott sei überall, mahnt die Mutter vor einer Galerie Kruzifixe. Gottes Wille vor der Menschen Wille, echot der Vater.
„Gott“ ist lediglich Alias für irdische Repressionen. Pablo wird entlassen, sein Bruder lechzt nach dessen Gattin Isa (Diane Bathen), der Prüderie und Mitschuld an Pablos Homosexualität vorgeworfen wird. Ohne familiären Halt und wirtschaftlichen Boden unter den Füßen fällt er als emotionales Wrack in den Schoß organisierter Religion. Die demaskiert die resignative Chronik der Selbsteinkerkerung in ein intellektuelles Gefängnis als Geschäftsmodell, nicht motiviert durch Glauben, sondern Gier. Sie kassieren ab: erst bei Pablo, dann durch ihn – und EC-Gerät. Technischer Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Geistiger schon.
Regie und Drehbuch: Jayro Bustamante, Darsteller: Juan Pablo Olyslager, Mauricio Armas, Diane Bathen, Maria Telon, Sabrina De La Hoz, Pedro Javier Silva Lira, Filmlänge: 107 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2019