Manchester by the Sea
Manchester by the Sea von Kenneth Lonergan behandelt die Frage, was passiert, wenn Menschen mit Schicksalsschlägen konfrontiert werden, mit denen sie nur schwer oder gar nicht umgehen können.
Lee Candler (Casey Affleck) ist ein sehr schweigsamer Mensch. Er führt ein ruhiges und vor allem monotones Leben als Hausmeister in Boston. Nach dem plötzlichen Tod seines Bruders Joe (Kyle Chandler) muss er zurück in seine Heimatstadt Manchester-by-the-sea. Dort soll er laut Testament von Joe bleiben und sich um dessen halbwüchsigen Sohn (Lucas Hedges) kümmern. Doch es lastet eine schwere Schuld auf Lees Schultern und durch die Rückkehr in die Stadt, mit der er all das Unheil verbindet, klaffen die schmerzlichen Erinnerungen an sein ehemaliges Leben erneut auf.
Lee wird nicht nur mit seiner tragischen Vergangenheit und seiner Ex-Frau Randy (Michelle Williams) konfrontiert, sondern auch mit den Problemen als Ersatzvater, sowie einem Ort, der vor allem schmerzende Erinnerung in ihm weckt. Lee ist zerfressen von Trauer und vor allem wütend auf sich selbst.
Der gebürtige New Yorker Kenneth Lonergan erzählt in Manchester by the Sea die Geschichten von Joe und Lee Candler. Die beiden wollen nicht wirklich hoch hinaus, sondern versuchen über die Runden zu kommen und ihren Alltag trotz Krankheit, Alkoholismus, elterlichem Versagen und gescheiterten Beziehungen zu meistern. Lonergan entrollt dabei sehr langsam ein tragisches Familiendrama, welches das Leben von Lee völlig aus der Bahn wirft.
Der Regisseur schiebt seinen Protagonisten dabei bewusst niedergeschlagen und resignierend durch den Film, umgeben von einer eiskalten, schneebedeckten Winterlandschaft direkt an der amerikanischen Ostküste. Untermalt mit passender Filmmusik wiegt resignierende, trübe Stimmung vor, wodurch jene Momente, die etwas Licht in das Trauerspiel lassen, nicht zu groß und umwerfend erscheinen, sondern Raum zur kurzen Aufheiterung zulassen. Jene unterhaltsamen Momente erhält gerade so viel Platz im Film, damit am Ende nicht der Eindruck entsteht, eine Komödie zu verfolgen.
Lonergan hat in Casey Affleck (Triple 9) einen Darsteller gefunden, der in der oft statisch sowie innerlich erfroren wirkenden Figur brilliert. Er erweckt Lee mit einer Intensität zum Leben, die oftmals erstaunt: Seine Performance ist mit zunehmender Filmdauer voll von Emotionen und überzeugt auch in stillen Momenten, wenn einzelne Blicke und Gesten reichen, um die innere Zerrissenheit des tragischen Charakters verständlich zu machen. Am Ende hat man ein ganz klares Bild davon, was diese Figur antreibt und bewegt.
Doch auch die Nebendarsteller imponieren. So gelingt dem immer gern gesehenen Kyle Chandler (Carol) ein warmherziges und mitfühlendes Schauspiel, Michelle Williams (My Week With Marilyn) glänzt wie so oft und auch trotz der Kürze ihre Anwesenheit im Film. Newcomer Lucas Hedges (Anesthesia) liefert eine erstklassige Kontrastfigur zu Affleck, indem er den Konflikt seiner Figur zwischen den Freuden der Jugend und den Verlust seines Vaters mit müheloser Leichtigkeit auf die Leinwand bringt. Über die wenigen schwächeren Momente des Films (meist zwischen Williams und Affleck) blickt man angesichts der restlichen beeindruckenden Erzählung gerne hinweg.
Kenneth Lonergan liefert trotz minimalster Makel einen komplexen, tiefgründigen und vor allem realistischen Film über Verlust und Trauer. Manchester by the Sea stimmt nachdenklich, ist schwermütig, zugleich traurig wie auch komisch – eben so vielschichtig wie das Leben selbst. Genau dies stellt auch den großen Coup Lonergans dar, der gerade jene komplexen Bahnen des Schicksals eindrucksvoll in einer bewegenden Erzählung auf die Leinwand bringt.
Darsteller: Casey Affleck, Michelle Williams, Kyle Chandler, Lucas Hedges, Liam McNeill, Gretchen Mol; Drehbuch: Kenneth Lonergan; Kamera: Jody Lee Lipes; Schnitt: Jennifer Lame; Musik: Lesley Barber; Ausstattung: Ruth De Jong: Kostüm: Melissa Toth. Filmlänge: 135 Minuten, gezeigt im Rahmen der Viennale V’16