Dark Forests
Obwohl meist die Spielfilme mehr Aufmerksamkeit auf der Viennale bekommen, sind es oft die Dokus, die mit ihrer Qualität überraschen. So auch Dark Forests, der von einem kleinen sibirischen Dorf und einen großen, dunklen Wald erzählt.
Ein schlammiger Pfad. Sibirischer Herbst, die Kälte hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht, wirkt aber schon jetzt so frostig, dass einem alleine beim Zuschauen kalt wird. Ein paar desolate, verstreute Holzhütten, die eine Siedlung bilden. Alles wirkt verlassen. Hier kann doch niemand leben? Doch dann eine melancholische, lyrische Erzählstimme (Denis Lavant, zuletzt in Holy Motors zu sehen), die gleich direkt in die Gedanken des Protagonisten aus Dark Forests eindringt (so scheint es) und über sein Leben in dieser Siedlung am Rande der Welt berichtet. Jeden Tag nimmt der Verfall zu, fast wie in Zeitraffer, und die Menschen werden durch das triste Leben, den harten Alltag und reichlich Alkohol ausgezehrt und altern vor ihrer Zeit. Dabei scheint die Landschaft trügerisch idyllisch und wie das perfekte Erholungsgebiet für Menschen, die sich gerne aus der Zivilisation zurückziehen. Hinter der Siedlung, den Hang hinauf, erstreckt sich ein riesiger, dunkler Wald. Regen und Schnee sind die ständigen Begleiter.
Dark Forests (Originaltitel: Les forêts sombres) zieht den Zuschauer von der ersten Minute an in seinen Bann. Zum einen die fesselnden Bilder, zum anderen die Erzählstimme. Die Kamera wird nicht nur ein stiller und heimlicher Beobachter der folgenden Geschichte über den Ort und die Menschen, sondern tritt als eigener Protagonist auf, der stellvertretend für uns fungiert. Dadurch wird eine rasante und unglaublich starke Bindung zwischen Publikum und Figuren etabliert, die sich über den ganzen Verlauf nie wieder lösen wird. Stéphane Breton gelingt es wahrlich eindrucksvoll den Zuschauer in diese Welt mitzunehmen und damit auch seine eigene Gegenwart in dem Film spürbar zu machen. Obwohl (natürlich) das Publikum aber auch Breton selbst nie in Dark Forests zu sehen sind, sehen ihn jene, die vor der Kamera stehen und nehmen ihn (und in weiterer Folge auch das Publikum) quasi in ihren Kreis auf, er wird zu einem Teil der Szene und des Dorfes.
Ein weiterer geschickter Kunstgriff ist die Voice-Over Narration, die an sich für einen Dokumentarfilm nichts Ungewöhnliches ist. Die Stimme, die eindeutig keiner der handelnden Personen zuzuordnen ist, erzählt von den Gedanken und Gefühlen, der Vergangenheit und tristen Zukunftsperspektiven, Erinnerungen und Tatsachen, die, so scheint es, im Kopf des Protagonisten spuken, während er seinen Alltag bestreitet. Dark Forests nutzt den Erzähler als Diskrepanz zwischen der Sprache der Hauptfigur bzw. der übrigen Dorfbewohner und einer reflexiven und selbstkritischen Innenansicht, die real oder auch nur erdacht sein könnte. Sie erzählt praktisch von einem möglichen Leben, was die Hauptfigur gehabt haben könnte oder auch nicht.
Ungeachtet dessen baut sich dadurch eine fast prosaisch anmutende Verschmelzung aus Bild und Erzählung auf, es wirkt (im positiven Sinn) als würde man einen Roman lesen oder vorgelesen bekommen und gleichzeitig die Bilder auf der Leinwand dazu sehen. Aus dem vermeintlichen Kontrast aus Außen und Innenperspektive des Protagonisten entsteht somit ein komplexes Charakter- und Landschaftsporträt, in dem die Tristesse des, für unsere Augen, deprimierenden Lebens der Dorfbewohner untrennbar mit der karg-schönen, dem menschlichen Schicksal gegenüber gleichgültigen Natur verbindet.
Bretons einzelgängerische Arbeitsweise (neben Drehbuch und Regie, zeichnet er auch für Kamera, Ton und Organisation vor Ort verantwortlich) erlaubt ihm nicht nur mit den Leuten vor der Kamera, sondern auch denen im Kinosaal in eine intime Kommunikation zu treten. Er nimmt den Zuschauer mit auf eine weite Reise in eine unwirtliche Gegend mitzunehmen, die genauso gut aus einem postapokalyptischen Film stammen könnte, um zu zeigen, was uns eigentlich zu Menschen macht.
Regie und Drehbuch: Stéphane Breton, Erzähler: Denis Lavant, Filmlänge: 52 Minuten, gezeigt im Rahmen der Viennale V’15