Stories We Tell
„When you are in the middle of a story it isn’t a story at all, but only a confusion; […] It’s only afterwards that it becomes anything like a story at all.“ Eine ruhige, gehaltvolle Stimme aus dem Off zitiert aus dem Roman Alias Grace der Schriftstellerin Margaret Atwood. Untermalt von holpriger Klaviermusik leitet sie das Credo von Sarah Polleys neuem Dokumentarfilm Stories We Tell ein: erst durch Erinnerung und Erzählen werden Erlebnisse subjektiv fassbar, werden Geschichten zu Geschichten.
Im Zentrum der Dokumentation steht der Versuch Polleys, anhand von Interviews ein Bild ihrer früh verstorbenen Mutter, der Schauspielerin Diane Polley, zu rekonstruieren. So kommen neben Dianes Mann Michael auch die Kinder aus ihren beiden Ehen, sowie ehemalige Kollegen und Freunde zu Wort. Es geht hier aber nicht um die Vermittlung eines stimmigen Gesamtbildes, sondern um eine Art Collage von subjektiven Erinnerungen. Jeder der Beteiligten erzählt also seine persönliche Geschichte über Diane, was teilweise zu witzigen Widersprüchen in den Versionen über Diane führt und das Subjektive von Erinnerung und Wahrnehmung unterstreicht. Aufgelockert werden die Interviews durch historisch wirkendes Super 8 Material, das hauptsächlich Diane und Michael Polley in ihren jungen Jahren zeigt. Teilweise handelt es sich dabei allerdings um mit Schauspielern nachgedrehte Szenen, d. h. auch die vermeintlich historischen, und daher relativ unumstößliche Wahrheit präsentierenden Szenen, offenbaren sich letztendlich als subjektive, bloß mögliche Versionen.
Sarah Polley überträgt ihre Überlegungen über das Erzählen also zusehends auf das Filmemachen, besonders von Dokumentationen. Wie jede persönliche Geschichte ist jede Dokumentation lediglich ein Versuch, durch eine nachträgliche Aufarbeitung Eindrücke in eine subjektive Form zu gießen. Jeder der in Stories We Tell Involvierten hätte, so reflektiert Michael Polley am Ende, selbst mit dem selben Filmmaterial einen anderen Film gemacht, eine andere Wahrheit entworfen. Der Film stellt damit auch einen Großteil von populären Dokumentationen und ihren Anspruch auf Wahrheit in Frage. Wahrheit ist subjektiv und Sarah Polley hält das dem Zuschauer durch ihre eigene Präsenz in Stories We Tell als lenkendes Organ auch immer bewusst. Beispielsweise indem sie ihren Vater bittet, Stellen aus seiner niedergeschriebenen Version der Geschichte zu wiederholen, oder vor laufender Kamera diskutiert, welche der von den Interviewten erzählten Version von Dianes Geschichte letztendlich Anspruch auf Wahrheit hat.
Als die eigentliche Geschichte von Diane zu Ende erzählt ist, rücken die Interviewten und Sarah Polley selbst immer mehr ins Zentrum. In an freie Assoziation erinnernden Sequenzen werden persönliche Empfindungen und Probleme thematisiert, welche nur mehr entfernt mit Diane zu tun haben und zunehmends den Eindruck einer Gruppentherapie der Familie Polley erwecken. Der Film neigt dadurch gegen Ende zu Langatmigkeit und leider auch Kitsch, ohne welchem er bis hierhin so bravourös ausgekommen ist.
Stories We Tell ist primär eine Dokumentation über narrative und metanarrative Überlegungen. Ausgangspunkt sind die Subjektivität von Eindrücken, bzw. die Notwendigkeit Erinnerung durch Erzählen erst zu erzeugen und sich bewusst zu machen. Diese Überlegungen als ausdrückliche Leitfäden in eine Dokumentation über die Geschichte ihrer Familie bzw. ihrer früh verstorbenen Mutter zu verpacken, gelingt Sarah Polley über weite Strecken beeindruckend gut. Sanft, feinfühlig, witzig und ziemlich intim ist Stories We Tell geworden.
Regie und Drehbuch: Sarah Polley, Darsteller: Sarah Polley, Rebecca Jenkins, Peter Evans, Harry Gulkin, Laufzeit: 108 Minuten, Kinostart: 28.03.2014, storieswetellmovie.com