Okja
Nach seinem dystopischen Ausflug in Snowpiercer tat sich Regisseur Bong Joon-ho mit Streaming-Gigant Netflix zusammen und hält nun der Lebensmittelindustrie schonungslos den Spiegel vor.
Lucy Mirando (Tilda Swinton), ihres Zeichens frischgebackener CEO des internationalen Großkonzerns Mirando, enthüllt während ihrer Antrittsrede, dass man in Chile auf eine ganz besondere Schweinegattung gestoßen sei, mit deren Hilfe der weltweite Hunger bekämpft werden könnte. Durch ein erfolgreiches Zuchtprogramm in den USA existieren bereits 26 Ferkel, die auf alle Kontinente der Erde exportiert und dort von lokalen Bauern mit traditionellen Aufzuchtmethoden umsorgt werden. Nach 10 Jahren soll dieser Wettstreit schließlich durch die Kür des sogenannten Superschweins enden, welches der einst gefeierte Biologe Dr. Johnny Wilcox (Jake Gyllenhaal) bestimmt. Eben dieses führt beim Mädchen Mija (Ahn Seo-hyeon) in der idyllischen Berglandschaft Südkoreas ein glückliches Leben und hört auf den Namen Okja.
Das Prestigeprojekt von Netflix wird, wie bei der Uraufführung in Cannes ersichtlich, als Gefahr für das Kino gewertet. Dabei muss man allerdings auch bedenken, dass ein solches Projekt ohne das Zutun des Video-on-Demand-Riesen wohl nie entstanden wäre. Das Werk behandelt ein brisantes wie auch wichtiges Thema und verpackt es zusätzlich auf unterhaltsame Weise. Während die Ausgangssituation einem Abenteuer für die ganze Familie gleicht, wandelt sich der Film während der Erzählung immer mehr zu einem packenden Drama und richtet sich dann vor allem an ein erwachsenes Publikum. So kritisiert Bong Joon-ho den fehlgeleiteten Umgang mit Genmanipulation und führt dem Zuschauer ohne Übertreibung vor Augen, wie viel tragische Wahrheit trotz eines überdimensionalen Nutztieres in seinem Werk steckt und womit sich die westliche Gesellschaft in naher Zukunft eventuell konfrontiert sieht. Obwohl der Film stellenweise nicht ganz auf den Punkt kommt, zaubert speziell das Finale einige kraftvolle Momente auf das eigene Empfangsgerät und verstört gleichzeitig mit verheerenden Bildern, die an Gräueltaten des Dritten Reiches erinnern. Durch den erfrischenden Wechsel in asiatische Gefilde beziehungsweise die überdrehte Charakterisierung mancher Figuren verlässt das Netflix Original die ausgetrampelten Pfade Hollywoods und versprüht seine ganz persönliche Note.
Die bezaubernde Ahn Seo-hyeon überrascht im positiven Sinn und trägt den Film über weite Strecken auf ihren zierlichen Schultern. Die innige Verbindung zweier reiner Wesen ist von der ersten Szene an spürbar und sie vermag es die Liebe zu diesem Geschöpf auf ehrliche Art zu transportieren. Gleichzeitig bringt das 14 jährige Mädchen die kämpferische Ader wunderbar zum Ausdruck, wofür sie teilweise bloß ihre überzeugende Mimik einsetzt. Selbst in körperlich anspruchsvollen Sequenzen gibt die Darstellerin alles und unterstreicht so den zielstrebigen Charakterzug der jungen Heldin. Tilda Swinton hat den Begriff Extravaganz zu ihrem Markenzeichen gemacht und verkörpert hier eine widerwertige Konzernchefin, deren Handlungsstrang eine raffinierte Wendung im Petto hat. Jake Gyllenhaals karikatureske Darbietung als egozentrischer TV-Star findet zwar bloß in kleineren Dosen statt, zeigt aber ein weiteres Mal eindrucksvoll, welch wandlungsfähiger Schauspieler er doch ist. Mimen wie Paul Dano oder Steven Yeun treten als Teil der Aktivistengruppe Animal Liberation Front auf und werden, wie auch Mija, dem skrupellosen Unternehmen als Kontrast entgegengestellt. Die Gruppierung bleibt im Vergleich zu den bereits genannten Charakteren zwar etwas blass, weist aber immerhin eine nette Dynamik auf, die sich erst mit der Zeit offenbart. Giancarlo Esposito lässt dann noch in gewohnter Manier sein Charisma spielen und reiht sich nahtlos in den fabelhaften Cast ein.
Beachtet man das überschaubare Budget von 50 Millionen Dollar, ist es umso beeindruckender, wie großartig die titelgebende Schweinedame Okja animiert wurde. Die cineastische Illusion erreicht vor allem in der Symbiose mit realen Schauplätzen und Personen jene Glaubhaftigkeit, die einst Spielberg mit Jurassic Park vollbrachte. Dies zeigt sich beispielsweise in den süßen Interaktionen zwischen dem Tier und Mija oder einer rasanten Verfolgungsjagd durch Seoul, die mit zahlreichen dynamischen Kamerafahrten eingefangen wird.
Mit Okja ist Bong Joon-ho ein fabelhafter Blockbuster für Erwachsene geglückt, den man in einem Atemzug mit Beasts of No Nation zur Crème de la Crème der Netflix-Filme zählen kann. Das Werk besticht durch seine zwei liebenswerten Hauptfiguren, teils bizarre Nebencharaktere, einem recht speziellen Humor und die kinoreife Inszenierung. Gleichzeitig bemüht sich der Film aber auch um eine sozialkritische Perspektive und regt durch kompromisslose Bilder zum Überdenken der eigenen Lebensweise an.
Regie: Joon-ho Bong, Drehbuch: Joon-ho Bong, Jon Ronson, Darsteller: Tilda Swinton, Giancarlo Esposito, Jake Gyllenhaal, Seo-hyun Ahn, Jeong-eun Lee, Steven Yeun, Paul Dano, Filmlänge: 120 Minuten, DVD/Blu-Ray Release: 28.06.2017 oder auf Netflix