Chi-Raq
„That’s how it is in Chi-Raq/And y’all mad cause I don’t call it Chicago/I don’t live in no fuckin’ Chicago, boy/I live in Chi-Raq.“ Der Text von Nick Cannons Pray 4 My City leuchtet in roten Großbuchstaben vom schwarzen Leinwandhintergrund auf und definiert den inszenatorischen Stil von Spike Lees aufwühlendem Message-Musical Chi-Raq: radikal, clever, witzig und voll chaotischer Poesie.
Die action- und wutgeladene Story liefert ihre klarsichtigen Aussagen über den Waffenwahn der US-Gesellschaft wie aus der Pistole geschossen, doch das ist kein Widerspruch zu Lees provokativem Standpunkt. Laut der Statistik zu Beginn des Films kamen von 2003 bis 2011 im Irak-Krieg 4.424 US-Bürger ums Leben, während Waffengewalt 7.356 Todesopfer forderte. Die Schießereien treffen nicht die weiße Mittel- und Oberschicht in den Vorstädten, sondern die größtenteils farbige Bevölkerung in den armen Vierteln der Innenstadt. Hier liegt der Handlungs- und Kriegsschauplatz, dessen Name ein Kofferwort aus Chicago und Irak ist.
Wie immer im Krieg sind die meisten von den brutalen Gang-Konflikten Betroffenen Unschuldige. Eine davon ist ein 11-jähriges Mädchen, deren Mutter (Jennifer Hudson) nach der Tat das Blut vom Gehweg zu wischen versucht. Aus Szenen wie dieser spricht Lees narrative Verwurzelung im klassischen Theater und der antiken Tragödie und Komödie. Die von Beats, Sex, Gewalt und bissiger Systemkritik schier überschäumende Handlung ist nicht zuletzt die Adaption eines Stücks, das seine Premiere um 411 v. Chr. hatte. „In the style of time, Aristophanes made that shit rhyme!„, verkündet Samuel L. Jackson als Dolomedes, dessen knallbunte Anzüge an Spike Lees It’s Showtime erinnern. Er verkörpert den Chorus auf der altgriechischen Bühne und tritt als Erzähler auf.
Doch man braucht keine altsprachlichen Schullektionen und eigentlich auch keine Figur wie John Cusacks lamentierenden Father Mike Corrigan, um zu begreifen, das Blut sich nicht einfach abwaschen lässt. Der Prolog in Form einer Predigt lässt sich ebenso gut als Kritik an Politikern lesen, die regelmäßig Tragödien nutzen, um für ihre christliche Agenda zu werben, statt die Ursache des Problems anzugehen. Diese Aufgabe übernimmt die Hauptfigur (grandios: Teyonah Parris), die auf der Leinwand den gleichen Namen trägt wie bei Aristophanes: Lysistrata. Mit der erfahrenen Aktivistin Miss Helen (Angela Bassett) organisiert sie unter den Frauen im Viertel einen Streik, der sich bald bis in die höchsten politischen Ebenen ausbreitet.
Die Frauen bekämpfen Feuer mit Feuer oder in diesem Fall Geilheit mit Geilheit: die Gewaltgeilheit ihrer Partner mit deren Geilheit nach Sex. Die Tagline „No peace – no piece!“ formulieren die Protagonistinnen unmissverständlicher: „No Freedom – no pussy!“ Als erstes spürt das Lysistratas Lover Demetrius Dupree (Nick Cannon), der sich selbst als Rapper ebenfalls „Chi-Raq” nennt. Er ist Anführer einer Gang namens Spartaner, deren Erzrivalen die von Cyclops (Wesley Snipes) angeführten Trojaner sind.
So viel zu Aristophanes. Aus dessen satirischer Vorlage kreiert Lee eine ebenso aufrüttelnde wie unterhaltsame Anklage gegen White Privilege und ein Männlichkeitsideal, das Brutalität als begehrenswert darstellt. Dabei ist die Lösung des Problems nicht nur in Chi-raq so einfach: Make love, not war.
Regie: Spike Lee, Drehbuch: Kevin Willmott, Spike Lee, Darsteller: Nick Cannon, Teyonah Parris, Wesley Snipes, Angela Bassett, Samuel L. Jackson, John Cusack, Filmlänge: 127 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2016, www.chiraqthemovie.com