Kind 44
Kind 44 erzählt die Tat eines Serienmörders, der kein Mörder sein darf, denn da ist diese eine propagierte und allumfassende Annahme: “Im Paradies gibt es keinen Mord. Das ist eine rein kapitalistische Krankheit.“
Als ein kleiner Junge den Beschluss fasst, sich aus einem ukrainischen Waisenhaus zu stehlen um sich auf eigene Faust durchzuschlagen, beginnt für ihn eine steile Karriere in der russischen Armee. Nachdem der Junge, dem der Name Leo gegeben wird, nach etlichen Jahren als sowjetischer Kriegsheld gefeiert wurde, steigt er auf der Karriereleiter hinauf zum Geheimdienstoffizier. Leo Demidow (Tom Hardy) glaubt fest an die kommunistischen Ideale und lebt mit seiner Familie fern von Armut in Moskau. Doch seine Ideale beginnen zu wanken, als einerseits seine Frau, die Lehrerin Raisa (Noomi Rapace) in Verdacht gerät eine Verräterin zu sein und andererseits der Sohn seines Mitoffiziers Alexei Andrejew (Fares Fares) ermordet aufgefunden wird. Als treuer Offizier sucht er nach Beweisen die seine Frau des Verrates schuldig befinden würden und überbringt auf Befehl seines Vorgesetzten Generalmajor Kuzmin (Vincent Cassel) seinem Kollegen die Nachricht, dass der Mord seines Sohnes als Unfall gilt – denn im stalinistischen System gibt es keinen Mord. Dennoch entscheidet Leo seine Frau nicht zu denunzieren und eigene Ermittlungen zum Tod des Kindes aufzunehmen. Sehr zum Missfallen Kuzmins, der ihn und seine Frau kurzerhand in die Provinz Wualsk verbannt. Während die ehemalige Lehrerin nun als Putzfrau arbeiten muss, wird der degradierte Leo dem General Nesterow (Gary Oldman) unterstellt. Doch auch in diesem Gebiet taucht eine Leiche eines jungen Buben auf – Kind 44 – und Leo kann nicht wegsehen und beginnt von neuem die gefährliche Such nach einem Kindsmörder im Paradies.
Kind 44 basiert auf dem mehrfach ausgezeichneten, gleichnamigen Roman von Tom Rob Smith, der unter der Regie von Daniel Espinosa nun als historischer Thriller die Kinos erobern soll. Die Geschichte von Kind 44 ist packend, doch in der filmischen Adaption schwächelt sie. Zu viel wurde an falscher Stelle ausgelassen um die Vorlage in kinotaugliche 137 Minuten zu verwandeln. Denn trotz schwerer Kürzung fehlt dem Film die nötige Spannung und verlangt von den Zusehern gleichsam einen langen Atem und Sitzfleisch trotz einer überraschenden Wendung in der Mitte des Werks. Verwirrend ist auch, dass nicht klar ersichtlich ist, welchem Erzählstrang man nun die größte Aufmerksamkeit schenken soll. Ist es die Mordserie an den Kindern, die unter den Teppich gekehrt wird, oder sind es die oft tödlichen Umstände in denen sich Regimegegner des stalinistischen Paradises wiederfinden. Beide Stränge der Geschichte sind wichtige Bestandteile, doch fühlt es sich an, als würden beide Teile nur halb erzählt werden. Abgesehen davon ist es schwer, die im Filmuniversum abgehandelte Zeitspanne zu erkennen. So könnte es sich um eine Spanne von guten 2 Wochen handeln in denen die Story (ohne Vorgeschichte Leos) abgehandelt wird, aber ebenso um mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre.
Die tatsächlich gut inszenierte Anfangssequenz, die dem Film den nötigen historischen Hintergrund gibt, gaukelt den Zusehern zudem zunächst vor, Kind 44 wäre ein Dokudrama und nicht ein historischer Thriller. Durch die vielen kampfreichen Szenen verwandelt sich dieser zeitweise sogar in einen Film mit großherziger Actionattitüde. Selbst ein kurzes komisches Element bringt das Werk mit ein, als sich eine Kampfszene zu einem Schlamm-Wrestling entwickelt.
Was diesen Film sehenswert macht sind die düsteren Drehorte, die Kulissen und die Kostüme. In Kombination bringen sie eine sehr getrübte, angsterfüllte Stimmung zum Ausdruck. Mit der Mode in der alten Sowjetunion hat sich Jenny Beavan beschäftigt, die bereits in The King’s Speech oder in Sherlock Holmes mit Hilfe von Kleidung den Blick in vergangene Zeiten ermöglichte. Alles schreit förmlich nach Trist und Trostlosigkeit, wenn die Figuren in ihren dunklen, verschlissenen Kleidern und mitgenommenen Uniformen über die Leinwand wandern. Gedreht wurde zumeist in Tschechien. In Prag entstanden vor allem jene Szenen, die in Moskau spielen, da man dort die beste Mischung aus sowjetischer Architektur der 1950er und 1960er antrifft. Im Gegensatz zum Prunk in Moskau fasziniert der heruntergekommene Ort Wualsk mit einer besonders drückenden Atmosphäre. Kaum zu glauben, dass auch Wualsk durch einen Originalschauplatz entstand, nämlich dem Stahlwerk in der tschechischen Industriestadt Králuv Dvur. Die Schienen die in das Werk führen, wurden sogleich als Bahnlinie für Personalzüge inszeniert. Zudem darf man eine original Dampflock aus dem Jahr 1928 bewundern, wie ebenso einen Dampfzug aus einer Floridsdorfer Lokomotivfabrik aus 1944. Eine wirklich gelungene Kombination.
Überzeugende Performance liefert das Schauspielerensemble. Obwohl der britische Akzent des Hauptdarstellers Tom Hardy in der nicht synchronisierten Version etwas verwirrend ist – spielt der Film doch in der Sowjetunion – harmonieren die Schauspieler gut miteinander. Joel Kinnaman mimt unterdessen durch seine Interpretation des Rivalen Wassili einen perfekten Antagonisten und sowohl der vorerst kühl wirkende General Nesterow, gespielt von Gary Oldman, wie die von Noomi Rapace dargestellte Raisa kreieren eine fast mystische Aura. Diese Leistung lässt auch darüber hinweg sehen, dass der Thriller recht klischeehaft inszeniert zu seinem Ende kommt. Subsumierend können sich die Kinobesucher jedoch auf einen grundsoldigen Kriminalfilm, der unter besonderen Umständen fungiert, freuen.
Regie: Daniel Espinosa, Drehbuch: Richard Price, Darsteller: Tom Hardy, Gary Oldman, Noomi Rapace, Joel Kinnaman, Vincent Cassel, Fares Fares, Filmlänge: 137 Minuten, Kinostart: K.A., www.kind44-film.de