Leviathan
Die Filmbeschreibungen im Viennale Pocketguide verleiten nicht selten zu gewissen Risiken, denn keinesfalls jedes Werk kann mit den verdächtig überschwänglich formulierten Lobeshymnen, die dort oftmals auf unerfahrene Viennale-Geher lauern, auch tatsächlich mithalten…
Und doch – wenn im Viennale-Programm in Bezug auf einen Dokumentarfilm über die Fischerei gar von einem „filmischen AC/DC-Konzert“ die Rede ist, dann darf man mit gutem Recht neugierig werden. In Leviathan, treffend benannt wohl in Anlehnung an das unbezwingbare Seeungeheuer der jüdisch-christlichen Mythologie, das die vernichtende Kraft des Meeres verkörperte, begleiten die beiden Anthropologen und Filmemacher Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor eine Gruppe von Fischern auf ihren mehrtägigen Fahrten vor der amerikanischen Ostküste. Dass es sich um eine der härtesten Professionen unserer Zeit handelt, das lassen Paravel und Castaing-Taylor allerdings auf eine Art und Weise spürbar werden, die man so im Kino noch nicht erleben durfte.
Leviathan will weder ein informativer noch kritischer Dokumentarfilm über die kommerzielle Fischfangindustrie sein und bewegt sich so weit abseits von herkömmlichen Dokumentations-Stilen, dass man eher von einem Experimental- oder Kunstfilm sprechen könnte. Gedreht wurde mittels winzigen digitalen Kameras, die sich ohne jegliche Einschränkung durch den Raum bewegen durften, die an Netze, Hände, Hüften und Köpfe festgebunden, zwischen Fischern und Filmemachern hin- und hergereicht, ins Wasser geworfen und wieder herausgerissen wurden. Von dieser rauen Machart sollten sich jedoch allenfalls schwer Seekranke wirklich abschrecken lassen, denn das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht einzigartig.
Ein Seeungeheuer gibt es zwar nicht zu sehen, dafür werden wir vom ersten Moment an hineingezogen in die poetisch-raue Gewalt des Meeres, sehen und hören, spüren und riechen die schäumenden Wellen, den nassen Regen, die Schwärze der Nacht, die Härte der Fischerarbeit und der Männer mit einer Intensität, wie sie selbst der aufwendigste 3D-Film nicht zustande bringen könnte. Gemeinsam mit der Kamera tauchen wir ein in das sprudelnde Wasser, werden selbst Teil des Meeres, schwimmen wie Fische unter dem Kiel des Schiffes, verheddern uns in Netzen, bewegen uns dann wieder hoch in die Lüfte, verschmelzen mit einem Möwenschwarm.
Und gerade durch den unsanften Kameraeinsatz, der uns so hautnah von allen Seiten an das Treiben heranholt, verlieren sich die Bilder auf geradezu magische Weise immer wieder im Abstrakten, verschwimmen zu einem oft undurchschaubaren Wechselspiel aus Farben, Formen und Rhythmus, in dem nicht mehr zu unterscheiden ist, ob es sich nun um spritzendes Wasser oder glühende Funken handelt, ob wir da Lichtflecke entfernter Schiffe oder fliegende Vögel – oder doch etwas ganz anderes und Geheimnisvolles – am nächtlichen Horizont entdecken.
Ohne Kommentar lässt Leviathan seine Bilder und die atemberaubende Soundkulisse für sich selbst sprechen und führt zu einer berauschenden Sinneserfahrung, die den Möglichkeiten des Dokumentarischen eine spannende neue Dimension verleiht. So fordernd und intensiv ist das Geschehen auf der Leinwand, dass der Film vielleicht eine Spur kürzer hätte ausfallen können. In einer ruhigeren Szene gegen Ende sieht man den Schiffskapitän in der wohligen Stille seiner Kajüte sitzen und immer wieder langsam einnicken. Und wenn man sich dabei ertappt, wie einem in Einklang mit dem müden Kapitän die eigenen Augen ein wenig zufallen, dann ist das kein Zeichen von Langeweile, sondern von befriedigter Erschöpfung nach diesem außergewöhnlichen Filmerlebnis, das man so schnell nicht vergessen wird.
Regie & Drehbuch: Lucien Castaing-Taylor & Véréna Paravel, Laufzeit: 87 Minuten, gezeigt im Rahmen der Viennale V’12