Was Du Nicht Siehst
Der 17-jährige Anton, seine Mutter und deren Liebhaber befinden sich auf dem Weg zu einem Ferienhaus an der französischen Atlantikküste. Als ein Straßenwartungsfahrzeug an ihrem Wagen vorüberfährt, hüllt sich die Umgebung wie magisch in dichten weißen Rauch. Einen Moment später steht ein Mann vor Antons Autofenster. In einem abrupten Ausbruch aggressiver Erregung beginnt der sonderbare Fremde, bedrohlich auf die Scheibe zu schlagen. Erschrocken tritt die Familie auf das Gaspedal.
Der österreichische und in Deutschland arbeitende Regisseur Wolfgang Fischer hält offensichtlich nicht viel vom Tanzen um den heißen Brei. Und so macht er mit dieser Anfangsszene in seinem Langfilm-Debüt Was du nicht siehst sofort klar: Hinter dem krampfhaften Bemühen um einen idyllischen Familienurlaub verbergen sich düstere Geheimnisse, hier liegt das Grauen bereits sehnlich auf der Lauer, lüstern und gierig, zum Sprung bereit. Es manifestiert sich schon bald in Form eines nebenan hausenden mysteriösen Geschwisterpaares, das auf Anton eine unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben scheint. Nur zu bereitwillig und wie in Trance lässt er den psychopathischen David und die verführerische Katja ihr undurchschaubares Spiel mit ihm treiben, sich in eine freie Welt ohne Regeln, in eine Spirale aus sexuellem Erwachen, jugendlicher Rebellion, Ekstase, Entsetzen und Gewalt führen.
Doch nach dem träumerischen Fliegen folgt der schwere Fall und ein harter Aufschlag in der Realität. Fischer setzt in seiner Kreuzung aus Coming-of-Age Story, Familiendrama und Mystery-Thriller vor allem auf atmosphärisch starke Bilder – und das mit Erfolg. Darüber hinaus scheint hier schlichtweg alles – ob nun die komisch unecht wirkenden Dialoge, das Glasfassaden-Ferienhaus, eine Gasmaskenskulptur in Antons Zimmer, der Nebelwald oder eine zermatschte Wassermelone am Küchenboden – wirkungsvoll darauf angelegt zu sein, eine möglichst unangenehme, verstörende, aber auch enigmatische und traumhafte Stimmung zu erzeugen.
Etwas ernüchternder verhält es sich bedauerlicherweise mit der erzählten Geschichte. Denn obwohl Was du nicht siehst durchaus das Potential für ein fesselndes Kinoerlebnis bereithält, gestalten sich der Verlauf und Ausgang des Geschehens als zu berechenbar, die Motive der Figuren und vor allem Antons Handlungen und Reaktionen sind nicht wirklich überzeugend. Der Film ist überladen mit einer leider viel zu plakativen Metaphorik und Symbolsprache, vergreift sich in filmisch bereits längst überreizten Schockelementen wie einem bedrohlich klingelnden Telefon und weist große, fast schon störende Ähnlichkeiten zu einigen offensichtlichen Vorbildern auf -man denke an Hanekes Funny Games, Ozons Swimming Pool und Lars von Triers Antichrist, denen er jedoch nicht das Wasser reichen kann.
Die Spannung lebt hier zwar vom Moment; in einem Vexierspiel aus zahlreichen unheimlichen, schockierenden Augenblicken und geheimnisvollen, fast mystischen Orten; in einem visuellen Wechselspiel zwischen einerseits weiten Landschafts- sowie Meeresaufnahmen und andererseits in die unheilvolle Dunkelheit führenden Gängen und Raumöffnungen, die wie Portale zu einer anderen, (alp-)traumhaften Welt wirken (und sei es nur der Weg in Antons eigenes düsteres Innenleben). Doch das Gesamtergebnis des Films bietet keinen Platz für wirklich Überraschendes: Das beabsichtigte Aha-Erlebnis am Ende ist keines und so bleibt Was du nicht siehst, bis auf die Erinnerung an einige wirklich schöne Aufnahmen und an die schauspielerische Leistung der Jungdarsteller, allen voran die des Psychos David (Frederick Lau), wohl leider nicht allzu lange im Gedächtnis.
Regie & Drehbuch: Wolfgang Fischer, Darsteller: Ludwig Trepte, Andreas Patton, Frederick Lau, Alice Dwyer, Bibiana Beglau, Laufzeit: 90 Minuten, Filmstart: 15. 07. 2011