Der See der wilden Gänse
Wenn Quentin Tarantino sagt, dass Der See der Wilden Gänse einer seiner Lieblingsfilme aus dem Jahr 2019 ist, verspricht das sehr viel. Die Frage bleibt jedoch: Hält der Film aus China, was Tarantino verspricht?
Der Gangster Zenong Zhou (Ge Hu) ist nach dem Mord an einem Polizisten auf der Flucht. In der ausweglosen Situation versucht er seine Lage so zu drehen, dass seine Familie von seiner Gefangennahme profitiert. Während seinem Vorhaben trifft er eine Frau (Gwei Lun-Mei), die versucht dem verzweifelten Flüchtigen zu helfen. Zusammen beschließen sie, sich beim See der wilden Gänse zu verstecken – ein Gebiet in dem die Grenzen zwischen Recht und Ordnung, Kriminellen und Polizisten kaum mehr zu erkennen sind.
Dass Quentin Tarantino Der See der wilden Gänse mag, lässt sich durchaus erkennen: eine düstere Crime-Story mit skurrilen Besuchen in der atmosphärischen Unterwelt einer chinesischen Stadt. Das beschriebene Setting des Films ist auch seine größte Stärke. Man taucht zusammen mit dem Protagonisten in die entlegensten Winkel chinesischer Großstadt-Slums ein, nur um zu erkennen, dass man selbst so orientierungslos ist, wie die Hauptfigur. In fast schon illusorischen, traumhaften Sequenzen streift man durch dunkle Gassen und Häuser. Dass sich Regisseur Yi’nan Diao hier sehr stark an Stilmittel des Neo-Noirs bedient ist kaum zu übersehen: kontrastreiches Spiel mit Licht und Schatten, der Crime-Plot, die eckigen und schroffen Charaktere und die blutigen Gewaltspitzen, die dem Film seine Härte geben. Eben ganz nach dem Geschmack eines Tarantinos.
Leider bleibt Der See der wilden Gänse nicht mehr als die Summe seiner Einzelteile. Der Film ist schön bebildert, hat eine Geschichte, die gerade noch wachhält, ist atmosphärisch stark und besitzt interessante Figuren. Dennoch setzen sich die einzelnen Stücke nicht rund zusammen. Es wirkt wie ein Bild, das nicht fertig gemalt wurde. Vielleicht liegt es daran, dass kaum ein Score vorhanden ist, oder dass die Hauptcharaktere motivationslos durch die Welt wandern. Oder es liegt daran, dass Yi’nan Diao, der neben der Regie auch das Drehbuch übernommen hat, der letzte narrative Kick fehlt. Die Geschichte spitzt sich nämlich seit Beginn des Films auf ein Ende zu, das unausweichlich und unübersehbar ist. Als würde man ein Fußballspiel schauen und genau wissen, dass in der 94. Spielminute das entscheidende Eigentor fällt.
Der Regisseur kann mit Der See der wilden Gänse auch nicht an die Qualität seines letzten Spielfilms Feuerwerk am hellichten Tag aus dem Jahr 2014 anknüpfen. Dieser gewann 2014 die Berlinale als bester Film. In seinem fünf Jahre alten Film versuchte sich Yi’nan Diao am Genre Crime-Mystery. In einigen Szenen von Der See der wilden Gänse hat man das Gefühl, dass er sich auch hier an diesem Genre bedienen wollte, dies aber nicht konsequent schafft. Es sind einzelne Versatzstücke unterschiedlicher Genres, die in seinem aktuellsten Werk zusammenfließen und eher eine Collage bilden, als ein großes rundes Ganzes.
Quentin Tarantino mag Der See der wilden Gänse. Zu Recht: der Film ist schön atmosphärisch und findet seine Stärken in der Inszenierung und seinem Setting. Jedoch fehlt es schlussendlich in der Narration und den Charakteren am letzten Schliff. Trotz allem ein schöner Kontrast zur amerikanischen Blockbuster-Berieselung.
Regie und Drehbuch: Yi’nan Diao, Darsteller: Ge Hu, Gwei Lun-Mei, Fan Liao, Regina Wan, Dao Qi, Laufzeit: 113 Minuten, DVD/Blu-Ray Release: 27.11.2020