Francofonia
Dreizehn Jahre nach dem hochgelobten Russian Ark lädt Alexander Sokurow den Zuschauer erneut zu einem cineastischen Rundgang in eines der kunstreichsten und berühmtesten Museen ein. Der Louvre ist in den meisten Szenen des Film-Essays jedoch fast ausgestorben.
Den Bau, der den Geist der Kunst bewahren soll, durchstreifen während der Anfangsjahre des Zweiten Weltkriegs zwei wahrhaftige Geister und zwei Männer, die über das Schicksal der Kunstwerke mitentscheiden: Museumsdirektor Jacques Jaujard (Louis-Do de Lencquesaing) und Graf Wolff-Metternich (Benjamin Utzerath), Repräsentant des faschistischen „Kunstschutz“.
Unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkriegs kam es in einem ungekannten Ausmaß zu Zerstörung, Raub und Verrückung von Kunst- und Kulturgütern. Die Geschichte der Enteignung und Vernichtung ist auch die von unwahrscheinlichen Rettungen von Kunstschätzen. Material für viele spannende Kinofilme. Einen davon versuchte George Clooney mit seinen Monument’s Men vorzulegen – und scheiterte im großen Stil. Sokurow nähert sich der Thematik auf mehreren Ebenen vom entgegengesetzten Punkt: anstelle einer geradlinigen Story verknüpft er experimentelle Szenen und nimmt statt der Position der von außerhalb hinzu gekommenen Kunstwächter die der unmittelbar Beteiligten ein.
Dem Figuren-Paar Wolff-Metternich und Jaujard stellt er ein zweites gegenüber. Die Marianne (Johanna Korthals Altes) von Eugène Delacroix‘ Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ und den auf mehreren Werken im Louvre vertretenen Napoleon (Vincent Nemeth). Marianne verkündet unermüdlich „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Napoleon tönt groß von seinen oft geraubten Kulturschätzen. Dazwischen flackern historische Aufnahmen von Passanten, Soldaten oder Hitler höchstpersönlich in Paris, ohne dass der allgegenwärtige Off-Kommentar des Regisseurs die Bilder in einen konkreten Kontext stellt.
Sokurows Hintergrunderzählung erscheint wie das Sinnieren über ein Langzeitprojekt, dass einfach keine Form annehmen will. Was für ein Zufall, dass seine gediegene Hommage an akademische Kunst genau wie so ein unfertiges Ungetüm daherkommt. Immer wieder sieht man den Regisseur in einem Apartment zwischen Stapeln von Bild- und Geschichtsbänden grübeln. Nebenher unterhält er eine schlechte Funkverbindung zu einem gewissen Dirk, Kapitän auf einem im Sturm gefangenen Containerschiff. Nicht nur diese Nebenhandlung fügt sich kaum in die Montage ein. Sokurow betrachtet Fotografien des toten Tolstoi und Tschechow und klagt, dass keiner von ihnen aufwachen wolle. Sind sie angesichts der mäandernden Szenen, bruchstückhaften Biografien und Gegenwartsbilder vor Langeweile gestorben?
Zu der schwelgerischen Schönheit von Russian Ark findet Francofonia nicht zurück. Über die träumerischen Bilder legt sich der Schatten der Nazis, von denen der Film ein irreführendes Bild als „Historiker und Kunstliebhaber“ konstruiert. Beides ist weit von der Realität entfernt. Die Nazis verbogen und fantasierten sich die Geschichte, damit sie ihr persönliches Konzept einer Herrenrasse stützte. Kunst diente ihnen als Devise oder Propagandawerkzeug.
Vor allem aber unterteilten die Besatzer rigoros in wertvolle und „wertlose“ und sogenannte entartetet Kunst. Jene, die diese verfemte Kunst schufen oder schützen wollten, wurden verfolgt und terrorisiert. Über diese düstere Seite der konservativen Kunstauffassung, die Wolff-Metternich und Jaujard zu Verbündeten macht, schweigt der Film. „Manchmal scheint den Museen egal, was um sie herum geschieht, solange sie nicht davon berührt werden.“, heißt es einmal ironischerweise. Doch Museen sind letztlich nur leblose Institutionen voller toter Gegenstände. Von denkenden, fühlenden Menschen darf man mehr Gewissenhaftigkeit und historisches Bewusstsein erwarten.
Regie und Drehbuch: Alexander Sokurow, Darsteller: Louis-Do de Lencquesaing, Benjamin Utzerath, Vincent Nemeth, Filmlänge: 88 Minuten, Kinostart: 07.01.2016, francofonia.de