This Ain’t California
Immer wieder gelingt es doch der österreichischen Kinolandschaft auf erstaunliche Weise, einige der großartigsten unabhängigen Filmproduktionen dezent unter den Tisch fallen zu lassen…
Ein solcher zu unrecht übergangener Film, der wahrlich viel mehr Aufmerksamkeit und Publikum verdient hätte als die vielen Belanglosigkeiten, die sich hier zulande unentwegt auf den großen Leinwänden breitmachen dürfen, steht derzeit noch bis 20. September im kleinen Wiener Topkino auf dem Programm.
Dabei mag die Thematik von „This Ain’t California“ – einer deutschen Dokumentation über die 80er Jahre Skateboard-Szene in der DDR – für manche vielleicht abschreckend wirken. Doch wer denkt, er könne sich nichts reizloseres vorstellen als einen Dokumentarfilm über Rollbrettsport, der irrt gewaltig. Denn die Geschichte, die Regisseur Marten Persiel hier aus den Untiefen der Vergangenheit ausgegraben hat, ist so unfassbar gut, dass man kaum glauben mag, dass sie nicht längst schon ein anderer erzählt hat. „This Ain’t California“ beginnt mit dem Ende. Denn „Panik“, der zügellose Junge mit den blond zerzausten Haaren und dem irren Blick, der sowohl Anführer als auch Poet auf dem Skateboard war, der wie eine Naturgewalt durch sein kurzes Leben donnerte, ist nicht mehr. Vielleicht war er auch gar nie wirklich da, existiert nur als große, wild lodernde, unglaubliche Legende…
Um ihrem Freund zu gedenken, treffen Nico, Goofy, Titus, Hexe und andere Mitglieder der ehemaligen kleinen DDR-Rollbrett-Szene, deren Wege sich einst in Folge des Mauerfalls trennten, in einem verfallenen Innenhof nach all den Jahren wieder aufeinander. Viel hat sich seitdem verändert. Die Welt. Das Leben. Sie sind erwachsen geworden. Haben Jobs. Haben Kinder. Autos. Das kleine Brett mit den vier Rollen gehört längst der Vergangenheit an. Doch die Erinnerung lebt.
Zwischen Bier und Lagerfeuer entführt uns die kleine Gruppe in ihr Damals, ins Ostdeutschland der 80er Jahre, in eine wundersame Welt der Nostalgie. Sie erzählen von den ersten selbstgebastelten Rollbrett-Kreationen; von unbeschwerter Kindheit und blutverschmierten Knien; von wilden Schmuggel-Aktionen zwischen Ost und West; von den entsetzten Blicken der Erwachsenen; vom braungebrannten Patrick, der mit seinen Hotpants im Handstand quer über den Alexanderplatz rollte; von den irrwitzigen Versuchen der Stasi, den „unorganisierten Rollsport“, diese gemeingefährliche Erfindung aus dem Westen, zu unterbinden – oder besser noch zum disziplinierten Nationalsport umzufunktionieren. Und vor allem erzählen sie von dem Jungen namens „Panik“, der vom autoritären Vater zum Olympia-Schwimmer gedrillt werden soll, der eines Tages die Reißleine zieht und zur Legende wird. „This Ain’t California“ hat in „Panik“ einen Hauptprotagonisten gefunden, den man so schnell nicht wieder vergessen wird.
Und über all dem schwebt der Geist einer Subkultur, für die das Rollbrettfahren nicht nur zur Ausübung jugendlichen Leichtsinns diente, sondern zum Sinnbild wurde für Freiheit, Grenzenlosigkeit und Anders sein – für ein wenig Farbe an einem sonst so grauen Ort, der ohne verständlichen Grund durch eine große verschlossene Tür vom Rest der Welt abgeschnitten war.
Doch ist der Inhalt von Marten Persiels Doku nicht schon Sensation genug, so überrascht „This Ain’t California“ noch vielmehr mit einer Montage, die im wahrsten Sinne des Wortes ebenso fetzt wie die Kids auf ihren Rollbrettern. In einer poetisch-schwindelerregenden Collage aus Archivmaterial und charmant chaotischen Super 8 Amateurfilm-Aufnahmen, die zum Teil von den jungen Protagonisten selbst aufgezeichnet wurden, Animationssequenzen, einer „How to do an Ollie?“-Anleitung und weiteren visuellen Spielereien, sowie vorangetrieben von einem großartigen Soundtrack, entwickelt der Film einen Sog, der im Kino nur selten anzutreffen ist. Alles ein Fake?
„This Ain’t California“ wirkt in seiner ganzen Art so reibungslos und perfekt gemacht, dass man die große Frage nach der Authentizität hier gar nicht zu denken, geschweige denn auszusprechen wagt. Und doch schwebt sie unheilvoll im Raum, lauernd, keifend, jederzeit bereit dazu, die wunderbare Wirkung dieses Meisterwerks mit einem Schlag zu vernichten. Durchforstet man das Internet, hagelt es tatsächlich nur zu schnell Antworten auf Fragen, die man lieber nicht gestellt hätte.
Doch Fakt ist: Ohne ein gewisses Quantum an nachgestellten Szenen wäre „This Ain’t California“ gar nicht möglich gewesen. Was uns hinters Licht führt ist dabei weniger der Film selbst, als vielmehr der allgemein geläufige Klassifizierungszwang, der uns Dokumentarisches und Fiktionales strikt getrennt voneinander betrachten lässt. „This Ain’t California“ jedoch bewegt sich in einer reizvollen Zwischenzone und verstrickt Fakt und Geschichte in einer nahtlosen Undurchsichtigkeit, die zweifelsohne beachtlich ist, einigen Zuschauern allerdings gewaltig gegen den Kopf stoßen wird.
Dennoch: Auch wenn in dieser „dokumentarischen Erzählung“, wie Marten Persiel sein Werk selbst bezeichnet, zugunsten der Ästhetik und Dramatik ein bisschen mehr geflunkert wurde, als einem lieb ist, so schickt uns „This Ain’t California“ nichtsdestoweniger auf eine unvergessliche Reise, die so charmant, so energiegeladen, so herzlich komisch und traurig zugleich ist, dass sie einfach miterlebt werden muss. Und sei es nur um endlich einmal einen erfrischend anderen Film über die DDR zu sehen. Ob man am Ende an die Legende glauben will oder nicht, das muss jeder selbst für sich entscheiden. Großartig bleibt der Film in beiden Fällen.
Regie: Marten Persiel, Drehbuch: Marten Persiel & Ira Wedel, Mitwirkende: Christian Rothenhagen, Mirko Mielke, Torsten Schubert, Renè Falk Thomasius, Titus Dittmann, Patric Steffens, Laufzeit: 90 Minuten, läuft noch bis 20. 09. im Topkino Wien