Sami Blood
10„Sie stehlen und sie lügen“, sagt Christina (Maj-Doris Rimpi), während ihr Sohn endlich losfährt. Bis zuletzt hat sich die alte Frau gegen diese Reise gesträubt, auf die ihre kleine Enkeltochter und der Sohn gespannt sind.
„Und sie jammern“, fügt sie verächtlich hinzu, als er eine CD auflegt. Yoik nennt sich der gutturale Singsang, auf den sie sich bezieht. Als Ausdruck von Nähe und Zuneigung ist er integrales Element der Kultur, die Christina tief verachtet. Nichts verbindet die eigensinnige Heldin von Amanda Kernells kraftvollem Spielfilmdebüt mit jenem Volk. Nur böse Erinnerungen, denen sie sich stellen muss. Ihre packende Geschichte erzählt die skandinavische Filmemacherin mit einer eindringlichen Verflechtung dokumentarischer Klarheit und intimer Nahaufnahmen.
Stets bleibt die Kamera unmittelbar bei ihrer Figur, insbesondere während der Rückblende zu Christinas Jugendjahren. Damals war sie Elle-Marja (Lene Cecilia Sparrok), eine begabte 14-jährige Sami, die mit den übrigen einheimischen Kindern ihrer Familie zwangsweise entfremdet und staatlich erzogen wurde. Der Schulweg ist für die jüngere Schwester Njenna (Mia Sparrok) und Elle-Marja ein Spießrutenlauf vorbei an schwedischen Jungen, die sie täglich an ihren Status als ethnisch minderwertig erinnern. Unter dem Deckmantel anthropologischer Studien werden sie gegen ihren Willen abfotografiert und katalogisiert. In der Schule sollen sie lernen, was notwendig ist, um sie der eigenen Herkunft zu entwurzeln und dabei abhängig zu halten.
Eine Weiterbildung auf einer höheren Schule wird Elle-Marja trotz exzellenter Leistungen und Intelligenz verwehrt. Ihre Lehrerin gibt ihr einen Gedichtband, ein ambivalentes Geschenk, dass die Hauptfigur indirekt an die unüberwindbare Klassengrenze mahnen soll. Doch die entschlossene Protagonistin glüht vor Verlangen nach der durch preziöse Details wie Desserts, Zigaretten und Lippenstift verkörperten Welt. Hinter der kühlen Farbpalette von Kernells leidenschaftlichen Szenen brennt das selbe Feuer, eine Innbrust gegen Diskriminierung und ein lange negiertes historisches Unrecht. Der Weg zurück in Elle-Marjas Welt ist für Christina ebenso schmerzhaft wie einst ihre Flucht. Aber sie wagt ihn, wie es ihre unerschrockene Natur von ihr verlangt.
Regie und Drehbuch: Amanda Kernell, Darsteller: Hanna Alström, Maj-Doris Rimpi, Lene Cecilia Sparrok, Lene Cecilia Sparrok, Filmlänge: 110 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2017