Saint Amour
Das letzte Stadium ist Schämen, sagt der gealterte Landwirt Bruno, als er einem Saufkumpan die 10 Stadien des Abstiegs bei Trunkenheit aufzählt. Um ganz unten anzukommen braucht es keinen Wein, wie ihn der Hauptcharakter und sein Vater Jean en masse konsumieren. Ein Film wie der von Benoît Delépine und Gustave de Kervern genügt völlig zum (Fremd)Schämen.
Das Regie-Duo ist ein eingespieltes Team mit einer eigenen Vorstellung davon, was komisch sei. Die einen hassen sie, die anderen amüsieren sich über Gags, die nicht „politisch korrekt“ sind. Ihre achte Zusammenarbeit nennt sich „Die französische Antwort auf Sideways“. Benötigte Alexander Paynes Tragikomödie denn eine Antwort? Die Kurzbeschreibung von Saint Amour ist jedenfalls eine von zahllosen irreführenden Filmbeschreibungen auf der Berlinale. Vielleicht gingen die Vertreiber davon aus, dass die Fans von Sideways sich sowieso an nichts mehr erinnern, außer, dass der Film nett war und von zwei Typen mit Wein-Faible handelte.
In Saint Amour geht es allerdings um ganz anderes: die Vater-Sohn-Beziehung zwischen den Protagonisten, die aus unklaren Gründen entfremdet sind, obwohl sie im Alltag andauernd zusammen hocken und die Sex-Gier von Bruno (Benoît Poelvoorde), der mit seiner grobschlächtigen Art bei Frauen keinen Erfolg hat. In einer frühen Szene sieht man ihn betrunken auf einer Landwirtschaftsmesse, wo Jean (Gérard Depardieu) seine Rinder vorführt, eine Angestellte anpöbeln. Als sie sich peinlich berührt abwendet, grölt er Beschimpfungen. Die Zuschauer sollen dabei natürlich auf Brunos Seite sein.
Eigentlich wartet man den ganzen Film nur sehnlichst auf das Ende der Weinreise, die Jean und Bruno mit dem eingebildeten Taxifahrer Mike (Vincent Lacoste) entlang schäbiger Raststätten antreten. Am sehnlichsten jedoch wartet man auf das Ende des Films. Aber die alkoholreiche Taxi-Tour und das vulgäre Road-Movie kommen nicht von der Stelle, obwohl die unangenehmen Protagonisten launig durch die Landschaft kurven. Dank der Tipps von Mike und Jean kommt Bruno bei den Frauen doch noch zum Zuge und darf sich sogar gemeinsam mit den beiden bei Hotelbesitzerin Venus (Céline Sallette) als potentieller Kindsvater bewerben.
Dabei ändert sich der Hauptcharakter keineswegs, er guckt von Vater und Chauffeur lediglich ab, wie man Frauen etwas vormacht. Da die weiblichen Figuren in Delépines und de Kerverns Plot dumm, pathetisch und wertlos gezeichnet sind, klappt die Masche. Die Verachtung der Regisseure gilt ebenso den Angehörigen von Minderheiten wie Homosexuellen, Menschen mit Handicap und psychischen Erkrankungen sowie denjenigen, die einen ausländisch klingenden Namen haben. Solcher unterschwelliger Rassismus tut der positiven Darstellung der Hauptcharaktere keinen Abbruch, als wollten die Filmemacher sagen, ein bisschen Nationalismus sei eben französische Lebensart.
Am abfälligsten behandelt werden Figuren, auf die mehrere der genannten Faktoren zutreffen. Sie sollen beim Zuschauer direkt Abscheu erwecken. Das Gefühl hegt man stattdessen gegenüber der Inszenierung. Am Ende gab es sogar einige Buh-Rufe und die allgemeine Frage: nach welchen Kriterien werden eigentlich auf der Berlinale die Filme ausgewählt?
Regie und Drehbuch: Benoît Delépine, Gustave Kervern, Darsteller: Gérard Depardieu, Benoît Poelvoorde, Vincent Lacoste, Céline Sallette, Filmlänge: 101 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2016