Vier Leben
Immer wieder kehrt der alte Ziegenhirte an die Pforten der Dorfkirche zurück, um ein Glas frische Milch gegen etwas Staub des Kirchenbodens zu tauschen. Abends trinkt er – einem heidnischen Brauch zufolge – den in Wasser aufgelösten Staub wie heilsame Medizin. Als eines Tages das wertvolle Päckchen beim Hüten der Ziegen auf den Weidehängen verloren geht, ist der Alte verzweifelt, denn auch er weiß, seine Lebenszeit geht langsam dem Ende zu…
Im tiefsten Hinterland der ärmlichen süditalienischen Bergregion Kalabrien liegt ein heutzutage fast vergessenes Reich. Es ist eine unberührte und nahezu mystische Landschaft, Heimat von Hirten und Köhlern, ein Ort der ungebrochenen archaischen Traditionen, an dem die Zeit noch einem verzaubernd eigenen Rhythmus folgt. Der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino kehrte nach seinem ersten Film Il Dono (2003) nun ein weiteres Mal an diesen magischen Ort seiner Ahnen zurück, um anhand eines spärlich besiedelten kleinen Dorfes nicht nur ein Fenster zur Vergangenheit zu öffnen, sondern auch einen der wenigen verbliebenen und wohl kostbarsten Plätze unserer Welt preiszugeben, an dem das Gleichgewicht von Natur und Mensch, der natürliche Kreislauf des Lebens noch intakt geblieben sind.
Auf verworrenen Linien zwischen Dokumentation und Spielfilm balancierend überrascht Vier Leben nicht nur mit eindringlicher Bildpoesie, sondern vor allem auch durch Frammartinos wundersam eigenwillige Erzählweise und den ungewöhnlichen Umgang mit Protagonisten. Denn begleitet die Kamera im ersten Viertel zunächst noch den Alltag des Ziegenhirten, so lässt sie nach dessen Tod das menschliche Leben vollends in den Hintergrund treten und beginnt, andere Fährten aufzunehmen. Wir folgen dem Hund des Hirten auf einem seiner Unruhe stiftenden Streifzüge im Dorf, einem neugeborenen Zicklein bei seinen ersten zaghaften Schritten und einem verhängnisvollen Ausflug auf die Weide, dem Schicksal einer großen Tanne, die im Zuge des traditionellen Dorffestes „Festa della Pita“ als Maibaum gefeiert wird.
Unermüdlich lässt sich der Film weitertreiben, vom Mensch zum Tier, zu den Pflanzen und letztlich zu den Mineralien, wobei das Bild zwischendurch immer wieder für einen undurchsichtigen und intensiven Augenblick in dunkles, feuchtes Schwarz taucht, so als kehre man in die Grabkammer des alten Ziegenhirten zurück. Auf diese Weise offenbart sich jedoch erst der wahre Protagonist von Vier Leben: ein körperloser Geist, der – ganz im Sinne der pythagoreischen Lehre von der Seelenwanderung – durch das Passieren der unterschiedlichen Materien den ganzen Film zusammenhält und den ewigen, wenn auch unerbittlichen Kreislauf des Lebens widerspiegelt. Dabei entdecken wir die Magie des Daseins, des Alltäglichen oder Beiläufigen, die Seele des großen Ganzen in einer Ameise auf der faltigen Stirn des alten Hirten, im Blick einer Ziegenmutter, die nachdenklich den Wolkenhimmel betrachtet, im Rauch von brennender Holzkohle, der über die Dorfdächer wandert.
Vier Leben ist ein poetischer, kraftvoller und wohltuend langsamer Film, der sich nicht scheut, auf den Dingen zu verharren. Mit seinem Geflecht aus kontemplativen und mystischen, gelegentlich auch herzzerreißenden oder humorvollen Momenten, seinem Wechselspiel aus statischen Totalen und eindringlichen Nahaufnahmen sowie seiner ganz und gar wort- und musiklosen Geräuschkulisse – bestehend allein aus den Klängen von Kuhglocken, dem Schreien von jungen Ziegen und dem Knarren der Bäume im Wind – entwickelt Frammartinos schlichter, kleiner und unkonventioneller Film einen wunderbar besinnlichen Sog, der die Seele zu berühren vermag.
Regie & Drehbuch: Michelangelo Frammartino, Laufzeit: 88 Minuten, Filmstart: 16. 09. 2011