Ginsengwurzeln
Ginsengwurzeln ist Craig Thompsons neues, autobiografisch gefärbtes, Werk. Während einer Schaffenskrise nach seinem zu Unrecht gefloppten Ausflug in die Welt des Kindercomics (Weltraumkrümel, ebenfalls auf Deutsch bei Reprodukt erschienen) besinnt er sich auf seine Kindheit. Geprägt durch Außenseitertum und den geschwisterlichen Zusammenhalt zu seinem Bruder Phil, begannen die beiden im Kindesalter bereits am Ginsengfeld der Bauern in der Umgebung mitzuhelfen, um sich so ein paar Dollar zu verdienen, die dann postwendend in den Kauf von Comics investiert wurden. Die einzige Möglichkeit der ländlichen Tristesse zu entkommen.
Als Craig Thompson bewusst wird, dass er diese prägende Phase in seinem großen Durchbruch, dem autobiografischen Blankets (ja, auch das ist auf Deutsch bei Reprodukt zu haben), ganz weg gelassen hat, beschließt er, dass dies vielleicht ein guter Ausgangspunkt für seinen neuen Comic wäre. Er besucht seine Eltern in Wisconsin und gräbt – metaphorisch gesprochen – tief in der Erde nach den Wurzeln des Ginsengs.
Dies ist der Aufhänger für eine höchst außergewöhnliche Graphic Novel, in der wir Craig Thompson auf eine Reise in die verschiedensten Winkel des Ginsenganbaus und auf zwei Kontinente begleiten. Nicht nur die Kulturgeschichte des Ginsengs wird beleuchtet, auch die wirtschaftliche Entwicklung des mittleren Westens in den USA. Der Ginseng und seine Verbreitung werden mehr und mehr zu einem Sinnbild, dass unsere gesamte aktuelle Zivilisationsgeschichte betrifft. Von der Weltpolitik, dem Klimawandel, bis zum kleinen persönlichen Drama, bleibt nichts unangetastet. Nicht einmal vor Covid-19 bleibt die Reise verschont.
Teils dokumentarisches Geschichts- und Sachcomic, teils biografische Erzählung, changieren die Ginsengwurzeln zwischen diesen Polen hin und her. Manchmal gerät dabei manch ein Pfad gar etwas lang und ausführlich. Nicht alles was hier passiert, ist gleich spannend. Aber auch das ist die Geschichte von Ginsengwurzeln. Die Erzählung einer Selbstkrise der Orientierungslosigkeit und dem Weg nach draußen.
Den großen Werken von Craig Thompson – Blankets, Habibi und nun Ginsengwurzeln – ist gemein, dass sie auch gerade im Umfang ein befriedigendes Ergebnis bieten. Dies ist kein Comic für Zwischendurch. Hier muss man Zeit und Konzentration mitnehmen. Wie bei allen guten Geschichten lohnt sich das am Schluss aber auch. Versprochen.
Ginsengwurzeln von Craig Thompson, 456 Seiten, erschienen bei Reprodukt.