Kreidestriche
Kreidestriche erschien erstmals vor etwas über 30 Jahren, 1992 um genau zu sein. Es gilt als Schlüsselwerk im Schaffen des spanischen Comiczeichners Miguelanxo Prado, und darüber hinaus als eines jener Werke, die international mithalfen den Comic „erwachsen“ werden zu lassen. Eben ein Graphic Novel, wie es das Feuilleton (nach Will Eisner) gerne nennt. Mit ein klein bisschen Verspätung kommt die Sonderausgabe zum 30. Jubiläum auch in deutscher Sprache heraus.
Der erste Leseeindruck macht positiv sprachlos. Kreidestriche ist ein wirklich faszinierender Bildroman, facettenreich und ungewöhnlich – und heute mindestens noch genauso beeindruckend wie damals. Die impressionistischen Bilder Prados strahlen eine trügerische Idylle aus, die durch die Abgründe in der Erzählung konterkariert wird.
Die Geschehnisse spielen auf einer Mini-Insel im Atlantik, auf der ein Leuchtturm steht. Betrieben wird der von Sara und ihrem Sohn Dimas, die daneben auch ein Lokal mit Übernachtungsmöglichkeit betreiben. Auf diese Einöde mitten im Meer zieht es ein paar zufällige Charaktere, deren Schicksal sich auf unerbittliche Weise verbindet.
Die Erzählung ist still und subtil, steigert sich jedoch immer mehr ins Unangenehme. Prado übernimmt dabei einen hitchcockischen Kunstgriff, in dem er die Leser immer mehr wissen lässt, als die einzelnen Figuren. Dadurch erhalten wir einen Überblick über das ganze Bild, während die Protagonisten stets in ihrem eigenen eingeschränkten Blick gefangen bleiben.
Kreidestriche ist auf eine entrückte Art wunderschön. Nur eben nicht in dem Sinn, wie es einem das Artwork auf den ersten Blick suggerieren mag. Eine wichtige und wuchtige Arbeit, deren Neu- oder Wiederentdeckung wohl zu den Jahreshighlights am deutschen Comicmarkt zählen darf.
Kreidestriche von Miguelanxo Prado, 104 Seiten, erschienen bei Cross Cult.