Berenice
Edgar Allan Poe bedarf wohl keiner weiteren Vorstellung. Aber falls doch: Dieser berühmte amerikanische Autor (1809-1849) unzähliger Schauergeschichten steht als Synonym für Horrorliteratur, wie vielleicht sonst nur noch H.P. Lovecraft oder meinetwegen auch Stephen King. Sein unheimliches Werk wurde dutzendfach verfilmt, kopiert, weitergesponnen – kurzum, es wirkt im Schaffen internationaler Horrorliteraten bis zum heutigen Tag anhaltend nach.
Der Carlsen Verlag veröffentlicht unter der Rubrik „Die Unheimlichen“, herausgebracht von Isabella Kreitz, kurze Comic-Adaptionen bekannter (und auch weniger bekannter) Schauergeschichten. Etwa Der Fremde nach Elfriede Jelinek von Nicolas Mahler umgesetzt oder Frankenstein nach Mary Shelley umgesetzt von Ralf König. Der deutsche Comiczeichner und Autor Lukas Jüliger bedient sich in dieser Reihe Berenice von Edgar Allan Poe und schafft damit eine kurze, elegante Adaption der klassischen Kurzgeschichte.
In der düsteren Vorlage geht es um einen kränklichen jungen Mann, der seine lebensfrohe Cousine Berenice „in einem schwachen Moment“ beschließt zu heiraten. Besonders fasziniert ist der Mann von den Zähnen der Cousine. Doch kurz darauf erfasst Berenice eine Welle der Depression. Dem jungen Mann wird von einer Dienerin von Berenices plötzlichem Ableben in Folge eines epileptischen Anfalls berichtet. Nach Berenices Beerdigung erleidet der Mann eine kurze Amnesie und als er wieder zu sich kommt, sind seine Kleider und Hände erdverschmiert, ein Spaten lehnt an der Wand, eine Schatulle an seinem Schreibtisch. Er öffnet sie und findet darin 32 Zähne.
Lukas Jüliger übersetzt diese Geschichte sehr frei und dennoch äußerst treffend in einen modernen Kontext: Ein junger Mann lebt zurückgezogen, in seiner Fantasie ewig dem Schreckgespenst seiner ersten Liebe Miku hinterher heischend. Als erotische Lüste in ihm erwachen, durchforstet er das Internet nach Befriedigung. Zufällig entdeckt er Miku wieder, die als Camgirl der zahlenden Kundschaft tiefe Einblicke auf ihren Körper gewährt. Die Obsession des jungen Mannes erwacht zu voller Blüte …
Lukas Jüligers eigenwillige Interpretation des Stoffes stellt hier den seltenen Glücksfall einer gelungenen Modernisierung eines klassischen Stoffes dar. Poes dunkle Erzählung um Begierde, Depression und das Abgleiten in den Wahnsinn, findet in Jüligers Zeichnungen und Worten eine treffsichere, hervorragende Entsprechung. Gleichzeitig ist diese Adaption aber auch ein höchst selbstständiges Werk, das auf zeitgeistrelevante Weise einen Bezug zur heutigen Lebensrealität herstellt. Die Vereinsamung des Individuums im Internetzeitalter, die Sehnsucht nach „echter“ Berührung, die Leidenschaft, die in Form von Sexspielzeugen und Pornografie befriedigt wird – all das bildet die zentralen Themen dieser komplexen Kurzgeschichte. Jüligers Bilder wirken in ihrem grün-grauen Farbstich intensiv und erzeugen einen eindringlichen Sog, der die tragische Geschichte in einen passenden Rahmen setzt. Ein Klassiker im modernen Comic-Gewand, der sich sowohl zur Neu- als auch Wiederentdeckung des Stoffes hervorragend eignet.
Berenice von Lukas Jüliger nach Edgar Allan Poe, 64 Seiten, erschienen im Carlsen Verlag.