Offenes Geheimnis
Die Mechanismen der Klassengesellschaft laufen zuverlässig wie das Uhrwerk eines maroden Glockenturms, dessen Aufnahme Ashgar Farhadis elegantes Figurenstück einläutet.
Der Kirchbau fungiert in doppelter Weise als substanzielle Allegorie: zum Einen für die von Generationen intakt gehaltenen, ehernen Hierarchien in dem spanischen Provinznest, das Bühne des Tschechow‘schen Gesellschaftsspiels wird, zum Anderen für den routinierten Ablauf und die vertrauten Angelpunkte der Handlung. Der iranische Regisseur und Drehbuchautor arrangiert seine anhaltend zeitrelevanten Lieblingsmotive zu einem kriminalistischen Melodram, das trotz romanesker Züge dank exzellenter Darsteller und psychologischer Suspense überzeugt.
Wie in Farhadis oscargekröntem The Salesman werden die konzentrierten Thriller-Elemente zum Katalysator schwelender Konflikte, wie in About Elly ist das eskalierende Ereignis ein mysteriöses Verschwinden. Dessen Hintergrund und Motive wurzeln tief in der Statusdynamik des Heimatdorfs, in das Laura (Penélope Cruz) zur Hochzeit ihrer Schwester reist. Die Entführung ihrer jugendlichen Tochter Irene (Carla Campra) ist zugleich Bestrafung und Druckmittel in einem restaurativen Komplott um Geld, Gut und Geltung, das ihren charakterschwachen Gatten Alejandro (Ricardo Darin) genauso betrifft wie ihre wirtschaftlich aufgestiegene Jugendliebe Paco (Javier Bardem).
Die im ersten Akt mit weitschweifiger Exposition etablierte Familiarität enthüllt sich als pittoreske Scharade einer von Missgunst und Verleugnung gelähmten Mikrogesellschaft. Deren lediglich pro forma egalitäres Standessystem duldet die Gastarbeiter auf Pacos Weinberg ebenso widerwillig wie den Arbeitersohn im Kreis der Altherrschaft. Herkunft und Klassenfluktuation sind unverzeihliche Vergehen gegen einen dünkelhaften Machtkodex. Vor diesem komplexen Hintergrund wird der Spendenaufruf des Ortspfarrers zugunsten der renovierungsbedürftigen Kirchenfassade zur sozialkritischen Pointe eines Regisseurs, dessen unerbittlicher Blick für oppressive Strukturen selbst einen inszenatorisch konventionellen Familienthriller zum hintergründigen Soziogramm erhebt.
Regie und Drehbuch: Asghar Farhadi, Darsteller: Javier Bardem, Penélope Cruz, Ricardo Darín, Bárbara Lennie, Inma Cuesta, Elvira Mínguez, Eduard Fernández, Ramón Barea, Filmlänge: 132 Minuten, Kinostart: 28.09.2018