Inmates
16„Wenn du nach etwas verlangst, bist du geisteskrank. Wenn nicht, bist du auch geisteskrank.“ Die Erkenntnis eines der Protagonisten von Ma Lis ebenso faszinierenden wie erschütternden Einblick ist eine der inhärenten Perversionen eines absurden Systems.
Ihr zweistündiges Debüt Mirror of Emptiness war gerade halb so lang wie der Nachfolger Born in Beijing. Die dritte Dokumentation der chinesischen Regisseurin ist mit fast fünf Stunden ein kraftzehrendes Werk. Grund dafür ist nicht allein die enorme Länge, sondern der klinisch-kalte Schauplatz, an den es die Zuschauer transportiert: eine psychiatrische Anstalt in Nordchina, eine geschlossene Station in einem geschlossenen Komplex. Die Menschen, die hier ihre persönliche Geschichte teilen, sind die Titelfiguren.
Drei Monate war die Filmemacherin eine von ihnen. Sie führte lange Gespräche mit den Patienten, bevor sie mit deren Einwilligung die Kamera dazu holte. Die außergewöhnliche Vertrautheit mit den Subjekten ihrer Reportage überträgt sie direkt auf den Zuschauer. Oft scheint es, als sprächen die Insassen mit einem, als richte sich ihr Blick unmittelbar auf die eigenen Augen. Ein integrales Thema der umfassenden Studie eines unzugänglichen Orts und seiner Frequenten ist menschliche Würde, die den Leidenden vielleicht schmerzlicher fehlt als ihre Freiheit. Wie nahezu jedes staatliche psychiatrische System ist die Institution nicht zum Heilen konzipiert. „Das ist kein Ort, an dem man genesen kann“, sagt einer der Männer, „Es ist ein Gefängnis.“
Wer hier endet, wird geistig auseinandergenommen. Für das behandelnde Personal sind die Betroffenen medizinische Fälle, defekte Räder im sozialen Getriebe, die nicht mehr richtig spuren. Auf die Zerstörung folgt die Neuzusammensetzung nach streng vorgegebenen Richtlinien und Normen. „Ich fühle mich wie in einem Umerziehungslager“, kommentiert ein Patient. Zum psychischen Druck und dem therapeutischen Druck kommt der finanzielle. Mit jedem Tag, den die Entmündigten hier verbringen, schwinden die Chancen auf einen Neubeginn an dem entrückten Ort genannt „Draußen“. Es ist eine unerreichbare Welt, die von der drinnen schließlich kaum mehr verschieden scheint. Wie einer der Charaktere sinniert: „Wer auf dieser Welt ist nicht geisteskrank?“
Regie und Drehbuch: Ma Li, Filmlänge: 287 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2017