Die Wand
Was macht einen Menschen aus? Eine Frau? Was unterscheidet Mensch von Tier? Nach welchen Regeln funktioniert Zusammenleben? Stehen wir einander nahe oder müssen wir nicht vielmehr eine Wand überwinden, um zueinander zu gelangen? Und wer sind wir selbst, Gefangene im Ich?
Als Marlen Haushofer 1963 „Die Wand“ veröffentlicht, wird es ihr erfolgreichster Roman. Dem Regisseur und Drehbuchautor Julian Roman Pölsler ist nun eine Verfilmung gelungen, welche die eigentümliche Stimmung des Textes in Bilder und Ton kleidet. Getragen wird der Film von der literarischen Sprache. Beide Medien setzen mit dem Schreiben der Protagonistin ein, dem Schreiben gegen die Angst. Die Erzählerin fügt das Erlebte, das sie in Notizen vermerkt hat, im Nachhinein zu einem Text zusammen. Sie schreibt auf Kalenderblättern und vergilbten Geschäftspapieren, einem Vorrat, der mit dem Ende des Romans/Films aufgebraucht ist.
Es sind die Aufzeichnungen einer Frau (Martina Gedeck), die in einem von einer unsichtbaren Wand umschlossenen Waldstück gefangen ist. Außerhalb der Wand ist alles tot. Nachdem ihre Reisebegleiter Hugo (Karl Heinz Hackl) und Luise (Ulrike Beimpold) nicht mehr aus dem Dorf zurückgekehrt sind, wähnt sich die Frau als einzige Überlebende einer Katastrophe. Der Hund Luchs, zwei Katzen, eine Kuh und ein Stier sind ihre einzige Gesellschaft. Die Sorge um die Tiere füllt fortan ihr Leben aus.
Pölsler hält sich an Rahmen und Aufbau des Romans und erzählt die Geschehnisse in langen Rückblenden. Dabei zeigt sich die große Stärke des Films. Wir erleben, wie die schreibende Frau zu der Gestalt geworden ist, die wir sehen. Wer uns anspricht, ist nicht die Urlauberin, die in den Wald gekommen war. Was wir sehen, ist das Ergebnis einer Verwandlung, es ist Ergebnis der Wand, ein namenloses Wesen in einer Umgebung ohne Zivilisation. So lassen sich die Rückblenden auf das „alte Ich“ tatsächlich schwer mit dem Bild der schreibenden Frau vereinen. Und gerade die ersten Sequenzen fügen sich nur widerwillig ein. Mit fortschreitender Nähe zur Erzählerin gleichen sich die Bilder einander an, bis sie schließlich eins werden.
Martina Gedeck spielt die Rolle eindrucksvoll und faszinierend. Auch wenn das Geschliffene ihrer Aussprache anfangs irritiert, markiert es den Gegensatz zwischen Zivilisation und Natur, der ebenso über die Schriftsprache deutlich wird. Schließlich übernimmt der Blick die Aufmerksamkeit, denn es sind vor allem Gedecks Gesicht und Körper, die sprechen. Auf ihnen ist die Verwandlung abzulesen. Marlen Haushofer bezeichnete die Wand als einen seelischen Zustand, der plötzlich nach außen hin sichtbar wird. „Das schreckliche unsichtbare Ding“ wirft die Frau auf ihre eigene Wand zurück, die Grenze zwischen Kultur und Natur, zwischen Menschsein und Frausein, zwischen ihrem Menschsein und den Tieren. Die Natur ist nicht nur überaus schön, sondern auch bedrohlich. Die Tiere sind zugleich Gesellschaft und Last. Die Jagd bedeutet nicht nur Überleben, sondern ebenso Mord, vor allem Mord.
Wir erfahren nie, was die Wand verursacht hat. Die Frau weiß für sich, dass die Ursache im Unvermögen zu lieben liegen muss, denn „Lieben und für ein anderes Wesen sorgen ist ein sehr mühsames Geschäft und viel schwerer, als zu töten und zu zerstören.“ Das macht den Menschen einsam, unter seinesgleichen und unter Tieren. Doch die Erzählerin vollzieht einen Übergang in eine neue Existenzform. Besonders im Umgang mit den Tieren ist bemerkbar, wie die unbeholfene Künstlichkeit in der Darstellung Martina Gedecks einer überzeugenden Natürlichkeit weicht. Wie weit die Metamorphose fortgeschritten ist und wie sehr die Zuseher in den Bann dieses Schauspiels und des dargebotenen Kosmos gezogen werden, zeigt die Schlüsselszene am Ende, die aus der Welt, die sich bisher aufgebaut hatte, herausfällt und die dramaturgisch nicht ganz überzeugen kann.
All jene, die den Roman von Marlen Haushofer schätzen, werden in Pölslers Werk eine würdige Verfilmung finden, welche die Facetten, Widersprüche, Konflikte und Deutungsebenen aufgreift. So stellt auch der Film die großen Fragen, die der Text aufwirft. Martina Gedecks Darstellung ist für sich sehenswert. Pölslers Inszenierung hat ihre Eigenheiten und Irritationen, doch bisweilen ist es, als hätte man es mit einem Hör- und Bilderbuch der „Wand“ zu tun. In gekürzter Fassung, versteht sich.
Regie: Julian Roman Pölsler, Drehbuch: Julian Roman Pölsler, Darsteller: Martina Gedeck, Ulrike Beimpold, Karl Heinz Hackl, Julia Gschnitzer, Filmlänge: 110 Minuten, Kinostart: 05.10.2012