The Seasons in Quincy: Four Portraits of John Berger
In The Seasons in Quincy: Four Portraits of John Berger verweben sich Hommage und Biografie, Essay und Interpretation zu einer vielschichtigen Charakterstudie des Schriftstellers, Kritikers, Malers und Dichters John Berger.
Colin MacCabe, Tilda Swinton, Christopher Roth und Bartek Dziadosz finden in vier filmischen Kapiteln jeweils einen individuellen Ansatz, sich dem umfassenden Werk des prägenden Theoretikers und Praktikers anzunähern. Es ist eine poetische Reise in die Wahlheimat des 90-jährigen Titelcharakters und entlang seiner Wege des Sehens. Ways of Seeing ist der Titel einer vierteiligen Mini-Serie, die 1972 vom BBC ausgestrahlt wurde und später als Buchadaption erschien. Das Sehen als kulturell, ideologisch und psychologisch vorbelasteter Akt war ein wiederkehrendes Thema in Bergers Schriften. Machmal scheinen die Kamerabilder mit diesen Konzepten bewusst zu spielen, manchmal scheint es, dass sie unbewusst Theorien bestätigen. Jeder der vier Filme entstand unabhängig von den anderen und funktioniert als eigenständiges Werk.
Dennoch entdeckten die Regisseure die übergreifenden Bezüge und Parallelen darin und machten sie zu Kapiteln in einem novellistischen Dokumentarfilm. Die an den Jahreslauf angelehnten Kurzfilme kreisen um die gewichtigen Themenschwerpunkte Familie, Freundschaft, Natur und Politik. Ways of Listening, Spring, A Song for Politics und Harvest beschreiben keinen Lebensweg in traditioneller Form. Sie sind Impressionen von Bergers Denken und Fühlen und geben Einblicke in seine gedanklichen Prozesse. Die Begegnungen mit dem Autor sind dabei für den Zuschauer spannend, wenn auch nicht ansatzweise so wie sie es wohl für die Regisseure waren. Ihre Filme tendieren mitunter zu sehr in Richtung Huldigung und vernachlässigen eine kritische Sichtweise auf Bergers Werk.
Dabei war Angst vor kritischen Stimmen – sei es die eigene oder die seiner Kritiker – kaum etwas, das Berger beeinflusste. In London, wo er 1926 geboren und aufgewachsen war, begann er seine Karriere als Maler. Einen Namen machte er sich jedoch vor allem durch seine akademischen und literarischen Publikationen. Mit seinem Romandebüt A Painter of our Time wurde er jenseits der Londoner Galerien bekannt. Seine pointierten Texte und Rezensionen machten ihn zu einer vom Establishment scharf beobachteten, von der Moderne fasziniert aufgenommenen Persönlichkeit, auch in der politischen Debatte. Der Schelmenroman G über die politische Bewusstwerdung des gleichnamigen Helden brachte Berger 1972 den Booker Prize ein.
Ein Jahr später kehrte er desillusioniert dem Stadtleben den Rücken und zog in den entlegenen Ort, der den Namen der Filmkollage inspirierte. In Quincey beobachtete Berger die Auflösung des überlieferten Landlebens und spürte seine eigene Neigung zur Natur. Die Trilogie Into their Labours ist eine eingehende Schilderung des Bauernlebens in Quincey und dessen Umgebung. In den Siebzigern begann auch Bergers Zusammenarbeit mit dem Schweizer Regisseur Alain Tanner, für den er drei Drehbücher verfasste.
Das Regie-Quartett verortet das unkonventionelle Persönlichkeitsbild in der malerischen Umgebung Quinceys. Die zwischen Lakonie und Verträumtheit mäandernden Aufnahmen scheinen dort die Seelenlandschaft des Künstlers zu entdecken. Der Wechsel zwischen prägnanten Gesprächen und Erzählungen wird dennoch bisweilen etwas lang, besonders, wenn man mit Berger weniger vertraut ist. Lust auf ein (Wieder)Entdecken seiner Arbeit macht sie dafür umso mehr.
Regie: Bartek Dziadosz, Colin MacCabe, Christopher Roth, Tilda Swinton, Drehbuch: Tilda Swinton, Darsteller: John Berger, Tilda Swinton, Filmlänge: 89 Minuten, gezeigt auf der Berlinale 2016