Fairy Tale
Stephen King feierte soeben seinen 75. Geburtstag. Von Altersmüdigkeit merkt man bei ihm nichts. Im Gegenteil. Gerade in den letzten 10 Jahren produziert King wieder am laufenden Meter – wie in seiner Hochphase, den 80er Jahren. Ihm gelingt dabei ein beachtlich vitales Alterswerk. Und dem tut – so viel sei schon vorher verraten – auch sein neuestes Werk Fairy Tale keinen Abbruch. Ein kurzer Überblick zum neuen Roman:
Charlie Reade ist ein siebzehnjähriger Schüler. Er wächst bei seinem alleinerziehenden Vater auf, nachdem die Mutter früh bei einem Unfall verstarb. In der Kleinstadt lebt auch der alte Grummelpott Mr. Bowditch, der mit seinem Hund Radar zurückgezogen auf einem Anwesen wohnt. Eines Tages rettet Charlie Bowditch unerwartet, nachdem der Alte von einer Leiter fiel. Man freundet sich an. Vor allem zu Bowditchs Hund baut Charlie eine innige Beziehung auf. Als Bowditch nach kurzer Zeit jedoch verstirbt, erbt Charlie alles von dem seltsamen Einzelgänger. Den Hund, das Anwesen und alles was darauf liegt. Und was darauf liegt, ist nicht ohne – nämlich eine Wendeltreppe die in eine andere Welt führt …
Vor bald 50 Jahren, im Jahr 1974 um genau zu sein, startete Stephen King seine literarische Karriere mit dem Roman Carrie. Seitdem gilt er als Synonym für Horrorliteratur. Und wenn er noch so oft Romane schreibt, die eigentlich gar nicht mehr in diese Schublade passen – für die Mehrheit wird King einfach immer gleichbedeutend mit Horror sein. Dabei hat er eben inzwischen viele Genres bedient. Auch Fairy Tale – der Name deutet es bereits an – ist einem anderen Genre verpflichtet: der Fantasy.
Nur ist das auch nicht der richtige Startpunkt, weil mein Vater ohne die verfluchte Brücke wohl kein Wunder gebraucht hätte. Deshalb muss ich dort anfangen, bei der verfluchten Sycamore Street Bridge. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, sehe ich deutlich einen roten Faden, der durch die Jahre zu Mr. Bowditch und dem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schuppen hinter seiner maroden viktorianischen Villa führt.
Um es kurz zu machen: Fairy Tale ist ein Potpourri aus hinlänglich bekannten Fantasy-Motiven. Von Michael Ende bis Edgar Rice Burroughs, von Robert E. Howard bis George Martin – alles was nicht bei drei auf den Bäumen ist, wird hier von King verwurstet. Um nicht mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert zu werden, gibt das der Text auch unumwunden zu jeder Gelegenheit selbst zu. Denn Ich-Erzähler Charlie hat all diese Werke natürlich auch gelesen und reminisziert immer wieder, welche erlebte Situation ihn an welchen Roman erinnert. Das klingt nun viel unorigineller, als es dann in Wahrheit ist. Denn King ist natürlich ein meisterhafter Erzähler, darum folgen wir ihm gerne durch die Pfade seiner Geschichte. Auch wenn manche davon eben schon ziemlich abgegangen sind.
Fans lieben Kings epische Werke. Ich persönlich ziehe die kürzeren Romane meist den längeren vor. Denn allzu oft lässt sich King zu leicht zum Schwafeln verleiten. Fairy Tale braucht ganze 300 Seiten (von knapp 900) bis die Geschichte dann eigentlich erst so richtig losgeht. Das ist dann einfach etwas viel des Guten. Aber einem Stephen King sagt man natürlich nicht: „Alter, ist gut – aber kürz doch nochmal die Hälfte.“ Wäre aber durchaus angebracht gewesen.
So ist Fairy Tale sehr gut. Auch das Ende (Kings Achillesferse) gelingt diesmal wunderbar. Aber 400 Seiten weniger wären noch besser gewesen. Trotzdem natürlich wieder beste Literatur zum Entkommen in eine andere Welt. Und das haben wir alle schließlich immer wieder und immer öfter nötig.
Fairy Tale von Stephen King, 880 Seiten, erschienen im Heyne Verlag.