Death Stranding
Völlig entkräftet und kurz vor dem Ende stapft Sam Porter Bridges, die Spielfigur in Death Stranding gespielt von Norman Reedus, über die Höhen einer Bergkette. Auf der Karte hat der Weg noch so einfach ausgesehen, doch je steiler der Aufstieg, desto länger ist die Reise auf unerwartete Weise geworden und selbst in den harten Gesichtszügen von Reedus ist bereits totale Erschöpfung auszumachen. Vollgepackt mit schwerem Transportgut stelle ich mit Schrecken fest, dass sich die Stamina-Anzeige dem absoluten Ende zuneigt. Sam gerät ins Stolpern und die kritische Ladung droht mir vom Rücken den Berghang hinunterzufallen.
Im letzten Moment erlange ich per Button-Input mein Gleichgewicht zurück (siehe: „Cargo“-Trailer, unten). Die Vernunft siegt, Sam muss sich setzen und nach einer Minute gönne ich ihm ein Nickerchen, während ich über alle Fehler reflektiere, die ich am Anfang der Reise noch ohne Bedenken weggesteckt habe. Gleich nach Aufbruch bereits beschossen durch Banditen, lief Sam unbeschwert durch einen Sumpf, mit Kugelhagel im Nacken stürzte er sich durch einen Fluss ohne die Tiefe zu überprüfen – mit dem erschreckenden Nebeneffekt, dass er von der Strömung erfasst und die Ladung vom Rücken über die ganze Flussbreite gespült wurde. In der plötzlichen Panik gelang es ihm sein Ladegut zu sichern, das in diesem Fall aus einem empfindlichen Sprengsatz besteht, doch ein paar Stücke seiner sorgsam vorbereiteten Ausrüstung trieben flussabwärts in die Spielwelt eines Mitspielers, ohne je wieder gesehen zu werden.
Doch wer braucht schon das Kletterseil, das seit Stunden unnötig Platz auf dem Rücken verschwendet oder die sperrige Leiter. Niemand kann Ahnen, dass der Weg nur Minuten später über den Gipfel eines Berges führt, wo eben diese Ausrüstung den Grundstein für wertvolle Zeit- und Energie-sparende Abkürzungen legt. Sams Stamina erholt sich langsam und er stampft über steinige Felsen seinem Ziel entgegen. Das Schuhwerk beginnt bereits sich aufzulösen und die Roboter-Beinaufsätze, die bisher ein wenig die Arbeit erleichtert haben, drohen angesichts der schnell schwindenden Batteriestärke zu streiken.
Eine halbe Stunde bin ich unterwegs in unbekanntes Gelände, mit dem erklärten Ziel, die Umgebung in ein Netzwerk von Spieler-Fortschritten zu hängen. Sobald ich dies erreicht habe kann ich gemeinsam mit anderen Spieler an Straßen bauen, Abkürzungsmöglichkeiten wie Leitern oder Seilzüge hinterlassen und Vehikel wie etwa Bikes oder Trucks zur Verfügung stellen. Doch in diesem Moment schafft das alles keine Erleichterung und zu allem Überfluss setzt nun auch noch Regen ein.
Regen, das bedeutet in Death Stranding „Timefall“: Jeder Tropfen beschleunigt die Witterung bei Kontakt um ein Vielfaches. Während sich Sam also mit letzter Kraft immer holpriger durch das Gelände müht, kann ich beobachten, wie die Ladung auf seinem Rücken zunehmend verrottet. Sam stolpert, fällt kopfüber den Hang hinunter. Die Ladung scheint wie durch ein Wunder in Ordnung zu sein, doch nun weint das Baby. „Bottle Baby“, oder kurz „BB“, heißt der ständige Begleiter Sams, den es nun mit schaukelnden Bewegungen des Gamepads zu beruhigen gilt. Denn bei Regen sollte man besser ein BB in bester Laune bei sich tragen, denn das ist der Moment in dem die öligen geisterhaften Erscheinungen in Erscheinung treten, die bei einem falschen Schritt Sam sofort den Gar ausmachen. Für Sam sind sie völlig unsichtbar und nur über eine Schulteranzeige, die mit dem BB verbunden ist, lässt sich deren Position erahnen.
Doch im Moment ist die Umgebung immerhin friedlich und so schleppt sich Sam, nachdem das BB väterlich beruhigt ist, mit letzter Kraft in das Lager, das es zu beliefern gilt – in der Hoffnung, sich mit einer Nacht Schlaf und einer gesunden Dusche wieder einigermaßen zu reparieren. Er schiebt das lädierte Paket in ein Regal und es verschwindet in einem schier unendlich wirkenden Amazon-Lager. Als Dank erhält er Likes von Einwohnern, aber auch von Mitspielern, die seine hinterlassenen Bauten benutzt haben. Likes ist die Währung, die in Death Stranding alles bedeutet. So oder so ähnlich laufen Sams zahlreice Reisen durch die beeindruckende Welt von Death Stranding ab. Angereichert mit interessanten Spielelementen wirkt keine Mission wie die andere und die offene Welt lässt jedem Spieler unzählige Optionen, die Herangehensweise an die eigene Willkür anzupassen.
Wie ein frischer Wind wehen die Zen-Wanderausflüge durch die triste Gaming-Landschaft von heute. In einer Zeit, in der sich das AAA-Segment kaum noch vor Zielgruppen-getestetem Einheitsbrei zu helfen weiß, ist es kaum nachvollziehbar, wie Kojima ein derart ungewöhnliches Werk aus dem Boden stampfen konnte. Und trotzdem wirken viele der verwendeten Konzepte wie eine natürliche Weiterentwicklung des offenen Metal Gear Solid V, das Kojima damals noch unter dem Konami-Dach erschuf.
Doch anders als MGS V weiß Death Stranding auch zwischen den abwechslungsreichen und ausgiebigen Gameplay-Einlagen gekonnt zu begeistern. Mit faszinierenden Science-Fiction-Konzepten, die zweifelsfrei Kojimas Handschrift tragen, und verstörenden Horror-Elementen, an denen vermutlich Regisseur Guillermo del Toro beteiligt war (der nebenbei auch noch eine tragende Rolle in der Handlung übernimmt), füllen sich zahlreiche Cutscenes, die mit überzeugenden Schauspielern und ausgezeichneter Regie eine durchwegs unterhaltsame Handlung erzählen.
Es ist eine Welt, in der es zahlreiche Geschichten zu erzählen gibt. Eine Welt nach der gescheiterten Automation der Gesellschaft. Einer Welt, in der die Barriere zwischen Leben und Tod schwindet und in der die letzten Überlebenden in isolierten Inseln die tödliche Umwelt fürchten. Eine Welt, in der Protagonist Sam täglich die Habseligkeiten eben jener Überlebenden befördert. Stunden der Isolation münden zumeist in fulminanten Höhepunkten, die durch Themen wie Terrorismus, Post-Apokalypse oder einfach nur Kojimas klassischem persönlichen Drama eine schier nie enden wollende Abwechslung zu bieten haben.
Und so fügen sich Gameplay und Handlung perfekt ergänzend zu einem schlüssigen Ganzen – eine Leistung die Kojima schon seit langer Zeit angestrebt, aber nie ganz erreicht hatte. Nicht zuletzt deshalb ist Death Stranding ein seltenes Meisterwerk, das sich über die Jahre ohne Zweifel zum Kultstatus bewegen wird. Die Qualität des Titels ist über jeden Zweifel erhaben und obgleich Kritiker immer Makel finden werden, ist Death Stranding angesichts einer Unterhaltungsindustrie, die an Ideenlosigkeit und Inhaltsleere so schmerzlich zu ersticken droht, wie ein rettender Hoffnungsschimmer.
Plattform: PS4 (Version getestet), Spieler: 1, Altersfreigabe (PEGI): 18, Release: 08.11.2019, Link zu Kojima Productions