Interview mit Ulrich Seidl (Teil 2)
Hier nun der zweite Teil unseres Interviews mit dem österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl. Wir haben mit ihm über seinen Film Paradies: Glaube, was es bedeutet ein „Frauenfilmer“ zu sein und über das Filmemachen gesprochen…
Anna Maria ist in ihrem Glauben und auch unter dem, was man allgemein als Liebe oder auch Nächstenliebe verstehen würde eine widersprüchliche Figur, wie sie sich beispielsweise ihrem Mann gegenüber verhält. Hat Sie sich durch ihren Glauben schon so weit entfernt von zwischenmenschlichen Beziehungen, dass ihr die reale, die weltliche Ebene schon entglitten ist?
Also, erstens einmal ist es natürlich gewollt und auch richtig, dass ein Charakter, in sich auch widersprüchlich ist. Das wäre mir zu langweilig über Menschen zu erzählen, die nur eine Seite haben. Jeder trägt in sich unterschiedlichste Widersprüchlichkeiten und Strömungen. Das ist das eine. Das andere, was ich vom Thema her auch erzählen wollte, ist, dass Anna Maria genau in diesen Konflikt kommt, zwischen ihrer seelischen, geistigen und auch körperlichen Liebe zu Jesus und ihren Verpflichtungen gegenüber ihrem Ehemann. Als Christin ganz besonders, als Ehefrau, und auch die Nächstenliebe ist ein wichtiges Gebot. Ich zeige sie in dieser Richtung wieder ganz unchristlich, sozusagen mitleidlos. Was ich damit sagen möchte ist, man wird auch blind in seinem Fundamentalismus.
Eine Katholikin und ein Moslem als Ehepaar sind durchaus immer noch ungewöhnlich. Dennoch entsteht der Eindruck, dass der Konflikt zwischen den beiden mehr durch Anna Marias Entrücktheit und Verhalten, ihrer Ablehnung entsteht, als aus Glaubensfragen oder Glaubensunterschieden. Wie wichtig ist es, dass ihr Ehemann Moslem ist?
Es ist wichtig, weil die Geschichte das erzählt. Es wäre ein anderer Film, würde er kein Moslem sein, weil diese Tatsache der Geschichte noch eine andere Ebene gibt. Es ist zwar so, die Hauptperson ist Anna Maria und ihr Glaube oder ihre Liebe zu Gott, zu Jesus Christus und ihre missionarische Tätigkeit, die sie damit als Auftrag erhielt. Und das Thema ist auch die Ehe und die Beziehung, diese Ehehölle vielmehr. Der Glaubenskonflikt spielt eine Rolle, aber keine sehr große … weil, das ist alles vorstellbar und es ist auch zeitgemäß. Was ich damit sagen möchte, ist: Wenn die Ehe nicht mehr funktioniert, wenn man auseinandergeht oder sich nicht mehr mag oder sich hasst, dann treten andere Dinge hervor, dann tritt der Glaube hervor. Früher hat er keine Rolle gespielt für die beiden, würde ich jetzt einmal sagen, was der Film nicht erzählt, aber wie die beiden noch glücklich verheiratet waren, hat der Glaube weder bei ihr noch bei ihm eine Rolle gespielt.
Und es sind dann vor allem Vorurteile, Phrasen, die zum Ausdruck kommen, wenn er sie als österreichische Hure beschimpft und ihr vorwirft, sie betrüge ihn. Gewissermaßen stimmt es auch, dass sie ihn betrügt, oder?
Ja, das stimmt. Ich meine, von seiner Seite, was er ja nicht wissen kann, ist es so. Bei ihm entsteht es aber aus der Zurückweisung. Ich sage, ein arabischer Mann verträgt diese Zurückweisung nicht, viele Männer bei uns übrigens auch nicht, aber gerade aus der arabischen Kultur heraus verträgt er es nicht, dass er von einer Frau zurückgewiesen wird. Da kommt dazu, dass er auf ihre Hilfe angewiesen ist, er kann nicht außer Haus gehen. All das fördert seinen Hass und da sagt man sehr schnell: „Du betrügst mich.“ Nach meiner Erfahrung bei Männern, die in unsere Breiten kommen, so wie der Nabil: Sie nützen auf der einen Seite die leichte Möglichkeit an Frauen heranzukommen, was sie in ihren Heimatländern nicht so leben können, auf der anderen Seite sind sie dann auch schnell der Meinung, dass die Frauen in einem gewissen Sinn Huren sind, weil sie so leicht zu haben sind. Das ist ein Widerspruch, den arabische Männer in sich tragen.
Ich habe mir von der Trilogie zuerst Glaube angeschaut. Habe ich etwas falsch gemacht oder spielt die Reihenfolge keine große Rolle?
Sie haben nichts falsch gemacht. Es ist keine Serie, man kann den zweiten, den dritten als erstes anschauen. Aber das Schöne daran ist, wenn man alle drei Filme anschaut, in der von mir vorgegebenen Reihenfolge, so wird der Kosmos für den Zuschauer noch ein größerer sein, dann bergen die Querverbindungen, die Thematiken, die sich dann miteinander verbinden, einfach eine noch größere Welt in sich.
Ursprünglich sollte es ein Film sein, der dann an Material so stark angewachsen ist, dass sie ihn geteilt haben.
Genau. Im ersten Teil werden auch alle drei Frauen ganz kurz vorgestellt, indem sie sich treffen und verabschieden …
… die Frauen haben Verwandtschaftsbeziehungen, es sind zwei Schwestern …
Ja, zwei Schwestern und die Tochter der ersten Frau, die nach Kenia fährt, sie hat eine Tochter, die auf ein Diätcamp geht. So war der Film auch immer angelegt und er beginnt damit, dass sich die drei Frauen in die Ferien verabschieden, Mutter, Tochter, Tante, dann sieht man parallel drei Handlungsbögen. Und jetzt sind es halt drei Einzelfilme.
Sie haben sich selbst, glaube ich, einmal als „Frauenfilmer“ bezeichnet …
In dem Zusammenhang …
Was ist ein „Frauenfilmer“? Weil Frauenfiguren im Mittelpunkt stehen?
Ich weiß nicht, ob ich selbst das war. Ich glaube nicht, dass ich das Wort so genannt habe, sondern auf die Frage, warum diese Filme, habe ich gesagt: „Ich mag Frauen und ich wollte schon immer einen Film über Frauen machen.“
Aber es ist nicht der erste Film über Frauen, oder? Import Export …
So explizit schon. Es geht um drei Frauenschicksale, drei Frauenlebensentwürfe, wie immer man das nennt. In Import Export war es eine Frau und ein Mann. Ich habe auch Filme gemacht zum Thema Männer, immer wieder. Ich versetze mich aber auch sehr gerne in die Rolle einer Frau und die Thematik der Suche nach Befriedigung der Sehnsüchte. In dem Fall sind es Frauen, die gesellschaftlich benachteiligt sind. Gerade bei der ersten Frau, die aufgrund ihres Alters und ihres Übergewichts nicht mehr die Attraktivität besitzt, um leicht an Männer zu kommen, die sie gerne hätte. Insofern geht sie dann nach Kenia, dort bekommt sie sie zuhauf.
Das heißt, Sie versetzen sich in alle ihre Figuren, gedanklich, identifizieren sich.
Natürlich, sonst geht das gar nicht.
Und ist es schwieriger bei Frauenfiguren als bei Männern?
Für mich nicht. Es ist gefährlicher. Als Mann muss man nur tief in sich selber hineinschauen, für eine Frau muss man die Sensibilität haben. Das glaube ich, habe ich auch. Ich habe ja auch einen Frauenanteil in mir.
Und ihre Frau hat an den Drehbüchern mitgearbeitet. Auch diese Perspektive gibt es, einer Frau auf Frauen …
Ja, das ist toll gewesen, weil ich natürlich die Dinge hinterfrage und hinterfragen muss beim Schreiben. Das dann überprüfen zu lassen von einer Frau ist schon ein großer Vorteil. Anders gedacht, wenn jetzt zwei Männer daran schreiben – geht auch, aber so ist es einfacher.
Abschließend noch eine generelle Frage. Sie sind Regisseur, Drehbuchautor und Produzent. Würden oder könnten Sie einem Bereich den Vorzug geben?
Na ja, ich bin vor allem Regisseur, aber ich schreibe auch Drehbücher, allerdings nur für mich. Ja, ich bin Autor meiner Drehbücher und ich bin Produzent um die Filme so machen zu können, wie ich sie machen möchte, mit einer größtmöglichen Freiheit und ohne Einfluss, mit größtem künstlerischen Anspruch. Aber natürlich, wäre ich aus großer Leidenschaft Produzent, dann hätte ich die Produzentenlaufbahn eingeschlagen.
Und haben Sie auch fremde Drehbücher verfilmt oder immer schon eigene?
Es ist mir schon genug angeboten worden und ich war manchmal nahe daran es zu tun, dann habe ich es aber abgelehnt.
Weil es Ihnen um die Realisierung ihrer eigenen Vorstellungen geht, das Wechselspiel zwischen Schreiben und Umsetzen?
Das stimmt so nicht ganz. Ich schreibe selber Drehbücher, genauso könnte ich ein fremdes Drehbuch nehmen. Ich will das nicht für alle Zeit ausschließen. Und jedes Drehbuch, das mir angeboten wird, lese ich durch, ich weise es nicht a priori ab, doch bis jetzt hat es mich noch nie genug überzeugt bzw. habe ich so viele eigene Projekte in der Schublade, dass ich dann, wenn ich die Wahl habe, etwas zu machen, zu den eigenen greife.
Ihr nächstes Projekt spielt im Keller oder in Kellern. Können Sie noch kurz etwas dazu sagen?
Was soll man dazu sagen. Der Keller ist in unser aller Köpfen …
Es geht also um den realen, räumlichen Keller und den metaphorischen Keller …
Und das, was in Österreich in den letzten Jahren passiert ist. Das Verbrechen im Keller ist nicht mehr aus unseren Köpfen zu kriegen. Das ist das eine. Das andere ist, Keller ist auch ein Ort des Geheimnisses, der Dunkelheit, ist immer ein Ort der Bestrafung gewesen, aber auch, und das war eigentlich der erste Ansatz oder der andere Ansatz, er ist auch ein Ort, wo sich Männer gerne hinbegeben, auch um unter sich zu sein, das beginnt beim Basteln, ein bisschen was Sammeln, ein bisschen was Trinken und endet damit sich zu verprügeln usw. Der Keller ist also auch eine Männerwelt. Kein leichtes Thema, aber ich finde, ein gutes Thema.
Das finde ich auch. Danke für das Gespräch.