Lourdes
„Es ist in der Kunst ein allgemeines Gesetz der Sparsamkeit, das gebietet, nicht mehr in ein Werk hineinzunehmen, als zu seiner Gestaltung unbedingt gebraucht wird. Zwar gibt es Kunstwerke von verschwenderischer Fülle, breit erzählende, figurenreich und bilderreich wie die Natur selbst, aber in ihnen ist dann gerade diese Fülle notwendiges Gestaltungsprinzip, nicht wucherndes, totes Fleisch.“ So attestiert Kunstpsychologe Rudolf Arnheim in seinem 1978 erschienenen Buch Rundfunk als Hörkunst dem Medium Radio den Vorteil der Blindheit des Zuhörers, welcher eben durch das Fehlen der optischen Ebene und der daraus folgenden Konsequenz der dementsprechenden Gestaltung der Funkübertragungen entsteht.
Zweckentfremdet man nun Arnheims These gewissermaßen und legt seine zentrale Aussage auf audiovisuelle Filmproduktionen um, so eröffnen sich bei der Sichtung von Jessica Hausners Werk Lourdes neue interpretative Möglichkeiten: Ein Maximum erzähltechnischer Reduktion wird geschaffen, um durch vieldeutige und eindrucksvollere Bilder ersetzt zu werden. Die optische Ebene wird demnach stärker in den Vordergrund gerückt als die Geschichte bzw. dessen Erzählung, was aber angesichts der filmischen Vorgeschichte der Wiener Regisseurin wenig verwunderlich ist. Bereits mit dem düsteren Psychothriller Hotel von 2004 hat Hausner zweifelsfrei bewiesen, dass eine Geschichte durch den geschickten Einsatz von stimmigen Settings und professioneller Kameraführung (auch bei Lourdes im Einsatz: Martin Gschlacht) auch ohne wortlastige Erzählung vermittelt werden kann.
Mit Lourdes bewegt sich die Regisseurin und Drehbuchautorin noch einen weiteren Schritt in diese Richtung, was aufgrund der vorherrschenden Thematik aber verständlich ist, da es sich zunächst und dem Titel nach, um einen Film über Wunder bzw. Wunderheilung zu handeln scheint, die ja ohnehin schwer (in Worte) zu fassen sind. Ein kurzer Exkurs: Lourdes ist eine kleine Stadt im Südwesten Frankreichs und zählt zu einer der weltweit meistbesuchten Wallfahrtsorte dank mehrerer Marienerscheinungen im Jahre 1858. Mit (wissenschaftlich natürlich nicht bewiesenem) heilkräftigem Quellwasser ausgestattet, dient der Pilgerort vor allem als Zufluchtsstätte für Gläubige, die sich durch Bäder eine Milderung oder eben Wunderheilung ihrer Krankheiten, Verletzungen und Behinderungen erhoffen.
Diese (unter)bewusste Hoffnung auf spontane Heilung dient Hausner als Grundlage für ihren Film: Mit klaren, anfangs scheinbar unbelasteten Bildern schildert sie die Reise der an Multiple-Sklerose erkrankten Christine (Sylvie Testud), die sich den Ritualen des klerikalen Betriebes unterzieht, stets mit einer ausdruckslosen Mimik, die keinerlei Klarheit über ihre Befindlichkeit auszudrücken vermag. Erst in einer pilgerinternen Gesprächsrunde werden erste Eindrücke der jungen, vom Hals abwärts gelähmten Frau ersichtlich und ihr immer noch reger, mentaler Geisteszustand samt entsprechender Skepsis hinsichtlich der zu erhofften Wirkung der Pilgerreise aufgedeckt.
Überraschend erscheint da natürlich die Tatsache, dass nach einigen Tagen der typischen Prozeduren im Wallfahrtsort bei Christine plötzlich das Wunder geschieht: spontane Heilung. Ab diesem Moment ändert sich nicht nur das geistige und körperliche Befinden der Protagonistin, sondern vor allem der gesellschaftliche Umgang rund um ihre Person, der von nun an die zentrale Rolle des Films einnimmt: Mitgefühl und Freude wird dabei ebenso gezeigt wie Neid und Missgunst anderen Pilger, die keinen Anteil am Glück von Christine abbekommen haben. Die unverhoffte Heilung eröffnet der ehemals Hilfsbedürftigen ungeahnte Möglichkeiten: Beruf, Karriere, Kinder – eine erste romantische Beziehung mit dem attraktiven Kuno (Bruno Todeschini) folgt bereits nach kurzer Zeit, ebenso wie die Eifersucht ihrer ehemaligen Pflegerin des Malteser Ordens, Maria (Lea Seydoux). Ob und wie sich das Leben von Christine dauerhaft verändert, bleibt jedoch ungewiss.
Wunderbar gelingt Regisseurin Hausner der Sprung zwischen mehreren Ebenen der Interpretation: Ob der Blick auf das Schicksal bzw. der Genesung der Hauptfigur nun ironisch (etwa mit spontanen Ovationen von mehreren Kellnern) oder zynisch anzusehen ist; die Zeremonien und religiösen Abläufe innerhalb des Wallfahrtsbetriebes faktisch aufgearbeitet (etwa beim Amt für die offizielle Anerkennung der Wunderheilung) oder als reine Geschäftemacherei entlarvt werden – dem Publikum bleibt die Entscheidung selbst überlassen, was auch den Reiz des offenen Endes der Erzählung noch zusätzlich verstärkt. Ist die gesamte Geschichte vielleicht auch nur ein Traum der Protagonistin?
Wer bisher schon Rezeptionsprobleme bei den Werken der Wiener Regisseurin hatte, der wird auch mit ihrer jüngsten Produktion nicht zufriedengestellt: Abermals wird man mit einer Hauptfigur ohne Vergangenheit konfrontiert, die wortkarg, distanziert und scheinbar gedankenverloren ihrem Schicksal ausgeliefert ist. Allerdings schafft es Jessica Hausner genauso wie bei Hotel, Empathie für den Protagonisten weniger durch Worte, als vielmehr durch seine Interaktion mit der unmittelbaren Umgebung zu schaffen. Dadurch entsteht zugleich auch ein vieldeutiger Blick auf die katholische Pilgerstätte bzw. dem klerikalen Betrieb dahinter, der je nach Fasson amüsant, entlarvend oder eindrucksvoll erscheint. Mit seinem fast dokumentarischen Charakter und seiner komplexen Thematik stellt sich Lourdes zwar erneut dem filmischen Mainstream entgegen, wer sich jedoch darauf einlässt, wird dank der vielen Interpretationsmöglichkeiten auch nach dem Ende des Films noch Gesprächsstoff finden.
Regie und Drebuch: Jessica Hausner, Darsteller: Gilette Barbier, Bruno Todeschini, Gerhard Liebmann, Laufzeit: 96 Minuten, DVD-Release: 14.10.2010, www.coop99.at/www-LOURDES