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Pluto

Bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts träumt Japan vom großen Technologie-Aufschwung. Immer wieder ist auch außerhalb die Rede vom Aufstieg Japans als wirtschaftliche Weltmacht. Getrieben durch das tiefe Trauma der nuklearen Vernichtung einer Atombombe auf der einen und der amerikanischen Unterstützung zur Entwicklung einer Erfolgsgeschichte gegen den Kommunismus auf der anderen Seite, entwickelte sich in Japan ein futuristischer Optimismus, der sich bis heute in der Anime und Manga Kultur wiederfindet und auch ein Publikum außerhalb der Inselnation fasziniert. Sucht man nach dem Ausgangspunkt für den Trend zu großen Augen und tiefen Emotionen, führt dabei kein Weg an Osamu Tezuka vorbei, der nicht nur das Medium in Japan und darüber hinaus groß gemacht hat, sondern dessen düstere und philosophische Akzente seiner Kindergeschichten immerwährend eine unerreichte Faszination ausüben.

Astro Boy, das ist der Name eines seiner bekanntesten Werke. Ein futuristisches Pinocchio, das mit seinem kindlichen Stil gerne die ernsten Themen überdeckt, die der Mangaka für sein junges Publikum verpackte. Politische Fragen zur künstlichen Intelligenz, Bewusstseinsbildung oder technologischer Ethik könnten bei uns im Jahr 2023 gar nicht brisanter sein, sind sie im Japan der 70er bereits fester Teil von Kindergeschichten. Damals prägt der alte Meister mit seiner Arbeit eine ganze Generation junger Künstler, die bis heute mit ihrem Schaffen das internationale Kulturgut mitbestimmen. Darunter findet sich Naoki Urasawa und wir kommen langsam zum eigentlichen Thema: Pluto.

Naoki Urasawa ist seinerseits ebenfalls Meister seines Fachs, Schöpfer des renommierten Meisterwerkes Monster, einem tief psychologischen Thriller-Epos, sowie diverser weiterer preisgekrönter Mangas. Bei ihm spielt das Thema Erinnerung schon immer eine große Rolle. Als er in den 2000er Jahren entdeckt, dass sein persönliches Lieblings-Kapitel der langjährigen Astro Boy-Erzählung, das ihn in seiner Kindheit fasziniert hat, in seiner Erinnerung viel größer und komplexer herangewachsen ist schlägt er kurzerhand vor, die Geschichte einfach noch einmal neu zu erzählen. Die daraus entstandene acht Ausgaben umfassende Manga-Erzählung trägt den Titel Pluto und findet nun 20 Jahre später eine vollständige, hochwertige Adaption als Netflix-Anime.

Und das bringt durchaus frischen Wind in das Kapitel Anime, denn die Branche hat sich in den letzten 10 Jahren nicht unbedingt zum Besten entwickelt. Die Zeiten in denen Filme wie Akira den komprimierten japanischen Zeitgeist von der Leinwand ins Bewusstsein hämmerten, sind nämlich lange vorbei. Comfort-Food für Einsiedler in Form von ekelhaften Wohlfühl-Fantasy-Sitcoms prägen den Animations-Output einer gewinnorientierten Industrie und so wirkt Pluto, trotz seiner Historie als bodenständige 60 Jahre alte Geschichte, wie ein frischer Wind.

Die Interpretation Urasawas der Vorlage als bodenständiger Cyberpunk-Psycho-Thriller ist nämlich von der ersten bis zur letzten Minute ein Fest für die Sinne. Interpol Inspektor Gesicht ist einem Serienkiller auf der Spur, bei dem nicht klar zu sein scheint, ob es sich um künstlichen oder echten Menschen handelt. Der Roboter mit menschlichen Zügen arbeitet an dem mysteriösen Fall und gibt dabei Einblicke in sein persönliches Leben: In der Welt von Pluto sind die schwierigen Fragen der künstlichem Intelligenz nämlich gelöst. Roboter haben Familien, emulieren Emotionen und sind mit soliden juristischen Grundlagen ausgestattet, die eine friedliche Koexistenz ermöglichen. Das einzige verbindende Element im Kriminalfall scheint ein lange zurückliegender Krieg im nahen Osten zu sein, der sowohl auf Seiten der Menschen, als auch auf Seiten der Mensch-Faksimiles ein großes Trauma hinterlassen hat.

Steht Gesicht mit seinem rückläufigen Haaransatz, seinem kargen Familienleben und düsteren Cyberpunk-Plot für Urasawas Erzählstil der Jahrtausendwende, so positioniert sich der ursprüngliche Protagonist als Kontrast der Vergangenheit. Der jugendhafte Roboterjunge Atom steht für den Zeitgeist der 70er, in dem industrielle Möchtegern-Visionäre wie Walt Disney das Bild der Zukunft auf Weltausstellungen zu zeichnen versuchten. Das idyllische Bild der perfekten amerikanischen Familie: Die hilfsbereite Schwester, das kleine Geschwisterlein, die liebevollen Eltern und der tägliche Schulgang emulieren den perfekten Alltag eines Knaben, der natürlich gegen Ende die Heldenrolle einnimmt.

Wie für Urasawas vielverzweigte Erzählungen üblich finden sich am Wegesrand zahlreiche Charakter-Studien, von Robotern, die Musik erlernen wollen, zu Menschen die die Gleichstellung künstlicher Lebensformen verabscheuen, bewegt sich die Geschichte sattelfest von Sci-Fi-Thema zu Sci-Fi-Thema und nimmt dabei die besten, emotionalen Aspekte des Originals mit.

Während sich der Crime-Thriller-Plot im Laufe der acht stundenlangen Episoden dann etwas verliert und sich der Fokus zur klassischen Shounen-Erzählung des Originals verschiebt, ist aber die ewige Gewaltspirale von Krieg und Verbrechen ein bleibender Begleiter, der auch das fulminante Finale zu einem Höhepunkt des Genres macht. Und obwohl der Einfluss von Astro Boy sich durch die gesamte renommierte Riege an Anime-Klassikern zieht, von Neon Genesis Evangelion zu Dragon Ball, ist die bittersüße Kernnachricht, nämlich dass die Größe von Stärke niemals das Ultimum von Wert darstellet, noch immer etwas von dem das Genre bis heute etwas lernen könnte.

Am Ende bleibt ein Meisterwerk, das völlig zu unrecht im Netflix-Sumpf gelandet ist. Pluto repräsentiert so viele Eckpunkte der japanischen Anime-Historie auf einmal, dass die Serie nicht nur für Sci-Fi- und Anime-Nerds zu empfehlen ist, sondern auch weit darüber hinaus.




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