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Viennale V’12 Geheimtipps, Teil Zwei

Wie schon in Teil Eins unserer Viennale Geheimtipps versprochen, müssen auch jene nicht verzweifeln, die keine Karten zu ihren Favoriten ergattern konnten. Denn das diesjährige Filmangebot hat noch einige Juwelen vorzuweisen, die vielleicht bisher übersehen wurden und vor allem, zu denen es noch Karten gibt…

6. Leviathan

Ein Griff ins Blaue. Die Redewendung wird hier zur formalen Wirklichkeit, denn vertraut man auf den Text im Viennale Pocketguide und einigen Clips, die im Internet kursieren, so begleiten die beiden Filmemacher Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor nicht einfach nur ein paar Fischer bei ihren Fahrten vor der Küste New Bedfords, sondern werfen uns auf noch nie zuvor erlebte Weise mitten hinein in das Wellengestöber und den Regen, lassen uns Teil werden von einem Möwenschwarm, verwandeln uns kurzerhand in einen Fisch, der durch das sprudelnde Wasser huscht. Ohne jegliche Beschränkung verschmilzt hier die Kamera mit den Gewalten der Natur und der harten Fischerarbeit, wird mal geworfen, untergetaucht oder an Netze festgebunden. Das klingt nicht nur nach einem filmischen Experiment, das den Dokumentarfilm revolutionieren könnte, sondern auch nach einem außergewöhnlichen Filmerlebnis, das am 29. 10. um 23 Uhr auf der riesigen Gartenbau-Leinwand hoffentlich keine Anfälle von Seekrankheit verursachen wird.

7. San Zimei (Three Sisters)

Auch der Dokumentarfilm des chinesischen Regisseurs Wang Bing entführt uns in eine ganz und gar fremde, in eine harte aber auch berührende Welt, weit abseits unserer Vorstellungskräfte. Im Mittelpunkt stehen drei Schwestern von zehn, sechs und vier Jahren, die in einem abgelegenen Bergdorf in Yunnan, China, ein bescheidenes Dasein fristen. Die Mutter ist verschwunden, der Vater als Wanderarbeiter ständig unterwegs, die Mädchen sind auf sich selbst gestellt. So beobachtet Wang Bing auf intime und eindringliche Weise, wie sich die jungen Schwestern an Stelle der Erwachsenen den Arbeiten des Alltags stellen, die Schweine auf die Wiese treiben, ihre Kleider waschen, Essen zubereiten. Doch so traurig das Schicksal der kleinen Yingying, Zhenzhen und Fenfen auch wirken mag, die drei sind nach wie vor Kinder, und Wang Bing gelingt es mit zarter Meisterschaft, die erschütternde Verwahrlosung, sowie die Magie des unbeschwerten Kindseins gleichermaßen einzufangen an diesem weit abgelegenen, fremden Ort.

8. Sun Don’t Shine

Im Special Program Five Women ist unter anderem die Schauspielerin und Filmemacherin Amy Seimetz vertreten, die sich in den letzten Jahren stetig zu einem kleinen Star der amerikanischen Independent Film – Szene entwickelt hat. Freunde des sogenannten Mumblecore-Genres kennen Seimetz aus Filmen wie Joe Swanbergs „Alexander the Last“ und Lena Dunhams „Tiny Furniture“. In ihrem eigenen Spielfilmdebüt „Sun Don’t Shine“, das Seimetz sowohl geschrieben, produziert, als auch zum Teil geschnitten hat, erzählt sie auf reduzierte und Mumblecore anmutende Weise von einem jungen Paar, das auf der Flucht durch die gleißende Hitze der Südstaaten zu sein scheint – vor was, das weiß man nicht so genau. Eine mysteriöse Reise voll von heftigen Auseinandersetzungen, Momenten der Zärtlichkeit und jeder Menge untergründiger Bedrohung. „Sun Don’t Shine“ erinnert laut Viennale Katalog an die von Gefahren durchdrungene Verträumtheit von „Badlands“, sowie ein wenig an Vincent Gallo und Monte Hellman. Klingt verlockend.

9. Capturing the Friedmans

Mitten ins Dokumentarfilm-Programm hat sich zwischen all die aktuellen Produktionen auch ein Film aus dem Jahr 2003 geschummelt und ist der absolute Geheimtipp für alle, die ihn tatsächlich noch nicht gesehen haben. Eigentlich wollte Filmemacher Andrew Jarecki eine Doku über den bekannten Clown David Friedman drehen. Als er im Zuge seiner Recherchen entdeckte, dass Davids Bruder und sein Vater in den 80ern wegen angeblichem Kindesmissbrauch verurteilt wurden, wittert er eine sehr viel spannendere Story und schwenkt um. Eine weise Entscheidung, denn die schier unglaubliche Geschichte, die Jarecki in „Capturing the Friedmans“ anhand von privaten Homemovies, Interviews und Prozessberichten fortan aufrollt, stellt das eigene Urteilsvermögen auf eine harte, nicht zu bewältigende Probe. Handelt es sich um einen gravierenden Fall von vorstädtischer Massenhysterie oder um ein tatsächlich schweres Vergehen? Lässt sich die Wahrheit überhaupt ermitteln? Die Antworten verstecken sich widerspenstig hinter einem unlösbaren, faszinierenden Puzzle, das einem noch lange, lange Zeit durch den Kopf geistern wird.

10. The Thing

Wie kann es sein, dass in dem Spezialprogramm They wanted to see something different noch kein Film ausverkauft ist? Wo sind denn angesichts der ganz großen Science Fiction Meilensteine all die kinowütigen Genre-Fans geblieben? So soll hier also zu guter Letzt Werbung betrieben werden für John Carpenters „The Thing“. Ein Remake von Christian Nybys, den Invasionsängsten des Kalten Krieges entsprungenem, Sci-Fi-Streifen aus dem Jahr 1951. Eines der wenigen Remakes, über die es sich zu sprechen lohnt. Und überhaupt einer der haarsträubendsten, monströsesten und irrsten Science Fiction Filme aller Zeiten. Die Handlung ist dabei schnell zusammengefasst: Ein Team aus Wissenschaftlern wird in der Antarktis von einem Alien dezimiert, das die Fähigkeit besitzt, sich in eine genaue Kopie eines jeden Lebewesens zu verwandeln, das es in die Finger kriegt. Doch in welchen grotesken, deformierten, körperklumpigen Formen der parasitäre Bodysnatcher bald schon in Erscheinung tritt, das lässt Liebhaber des analogen Spezialeffekt-Kinos in Ekstase-artige Zustände verfallen. Und sollte das noch nicht Anreiz genug bieten, so überzeugt „The Thing“ ebenso mit einem markerschütternden Carpenter’schen Sound-Design, einer raffinierten Handlung und einem im wahrsten Sinne des Wortes „coolen“ Kurt Russell. Und das auf der Leinwand des Gartenbaukinos! Unverzichtbar.